Edelherb: Roman (German Edition)

ob ich Dich begleite oder nicht. Aber ich will mich nicht beschweren.
    Deine Dich liebende Schwester
    Nataliya Balanchine
     
    PS : Ist es für Dich in Ordnung, dass Mr. Kipling unser Vormund wird?
    PPS : Ich will Dich nicht drängen, aber wann kommst Du zurück?
    PPPS : Einen Brief zu schreiben ist schwerer, als ich dachte.
    PPPPS : Ich hatte nicht mehr so viele Albträume.
    *
    30 . November 2083
    Liebe Anya,
    ein kurzer Brief, um Dir mitzuteilen, dass es Natty gutgeht. Sie vermisst Dich sehr, aber Deine Freunde Win und Scarlet tun ihr Bestes, um sie aufzuheitern. Ich gebe zu, dass sich diese Wohnung ohne Dich sehr groß anfühlt, und wir brauchen jetzt noch weniger Erbsen als sonst. Wir alle hoffen, dass Du bald zurückkehren kannst. Mir wurde nicht mitgeteilt, wo Du bist, aber ich weiß, dass es eine verwirrende Erfahrung sein kann, zum ersten Mal fort von zu Hause zu sein. Hier ein Zitat aus einem meiner Lieblingsromane – Du erinnerst dich bestimmt an JANE EYRE von Charlotte Brontë: »Für die unerfahrene Jugend ist es ein seltsames Gefühl, sich plötzlich ganz allein in der Welt zu sehen – von allen Bekannten getrennt – ungewiß, ob sie in den Hafen, für welchen sie bestimmt ist, einlaufen kann und durch tausend Schwierigkeiten verhindert, in den sicheren Port, aus welchem sie ausgelaufen, zurückzukehren. Der Reiz der Neuheit, die Freude am Abenteuerlichen versüßt dies Gefühl, das Bewußtsein der Selbständigkeit erwärmt es – aber die Empfindung der Furcht dämpft es – und kaum war eine halbe Stunde vergangen, in welcher ich noch immer allein war, so wurde das Gefühl der Furcht durchaus vorherrschend. Da fiel es mir ein, dem Kellner zu läuten.« Das scheint mir ein guter Rat zu sein, Anya: Wenn nichts anderes mehr hilft, läute die Glocke.
    IMOGEN GOODFELLOW
    *
    Annie, mein Schatz,
    mein Leben ist eine einzige Tragödie geworden!
    Kannst Du Dich erinnern, dass ich mich übergeben musste, als ich Dich in der Krankenstation auf Liberty besuchte? Tja, es war aber keine Grippe, und ich dachte: Oh, Scarlet, du hast aber Glück! Dann musste ich mich aber jeden Nachmittag zur gleichen Zeit übergeben, und es stellte sich heraus, dass ich, Deine dumme Freundin mit dem Pech in der Liebe, schwanger bin! Und zwar von Gable Arsley, diesem Ungeheuer. Ich habe ihm nicht gesagt, dass es seins ist, aber er weiß es, da bin ich mir sicher. Ehrlich gesagt, habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen, seit wir Schluss gemacht haben. Er versucht zwar, mit mir zu reden, aber ich ignoriere ihn. Er ist mir egal. Niemals würde ich mit ihm ein Kind großziehen. Nicht mal eine Katze. Mit dem würde ich nicht mal ein Stofftier großziehen.
    Was die Schwangerschaft angeht … Die größte Tragödie ist, dass ich im Herbst die Ophelia spielen sollte und dieser fiese Mr. Beery mich rausgeworfen hat, als ich ihm sagte, ich bekäme ein Kind. Kannst Du Dir das vorstellen, Anya? Die Show geht ohne mich weiter.
    Meine Brüste sind jetzt übrigens so groß wie Deine. Wenn ich vorher Kiwis hatte, habe ich jetzt Pampelmusen! Ich bin noch nicht sehr dick, aber bald muss ich mir einen Trinity-Rock mit Gummiband zulegen. Kannst Du Dir das vorstellen? Scarlet Barber mit einem Gummizug in der Taille?
    Außerdem habe ich keine Freunde. Die Theaterleute sind mit dem Stück beschäftigt, alle anderen ignorieren mich irgendwie. Win ist momentan eigentlich mein einziger Freund. Er redet unablässig von Dir. Es wäre unglaublich langweilig, wenn ich Dich nicht ebenso vermissen würde.
    Rate mal, welches Mädchen nach Dir beinahe als nächstes der Schule verwiesen worden wäre? Schwanger zu sein wird an katholischen Schulen offenbar nicht besonders gern gesehen. Wer konnte das ahnen? Da ich im letzten Jahr bin, darf ich bleiben, auch wenn mir sehr deutlich gemacht wurde, dass ich als nicht viel mehr denn als warnendes Beispiel tauge.
    Wo wir gerade beim Thema sind … Wie konnte ich so dumm sein, mit Gable Arsley zu schlafen? Sicher, er sagte, er würde mich lieben. Aber das hat er zu Dir auch gesagt, und Du hast es irgendwie geschafft, ihn nicht an Dich ranzulassen, oder?
    Es gibt bestimmt noch tausend andere Dinge, die ich Dir sagen wollte, aber ich bin müde. In letzter Zeit will ich nur noch schlafen. Und Schokolade essen, wenn ich wüsste, woher ich sie bekommen soll.
    Frohe Weihnachten, Annie, meine Süße!
    Je t’aime! Je t’aime! Je t’aime!
    Scarlet
    *
    Anya:
    Mr. Kipling bat mich, Dir nichts Geschäftliches zu schreiben,