Edelherb: Roman (German Edition)

du?«
    »Hast du irgendjemandem von mir erzählt?«
    »Natürlich nicht. Ich habe mit niemandem geredet. Glaubst du, ich habe keine Ehre? Es ist so, wie ich dir gesagt habe: Theobroma Marquez schweigt wie ein Grab.«
    »Aber eben hast du alles mitgehört?«
    »Si. Lo siento.«
Theo überlegte. »Du kannst diesen Mann nicht heiraten, Anya. Er bedrängt dich. In meinen Augen ist er kein Ehrenmann.«
    Trotz des Gesprächs, das ich gerade mit Yuji geführt hatte, konnte ich Theos Meinung nicht ganz teilen. Ich sagte ihm, ich sei müde, obwohl nur ein Körperteil von mir müde war: mein Mund. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte hoch auf mein Zimmer und mit meinen Briefen allein sein. Und dahin ging ich auch.



IX. Ich erhalte Briefe aus der Heimat
    7 .  12 .  2083
    Liebe Anya,
    hoffentlich bist Du in guter Verfassung, wenn Dich diese Briefe erreichen. Ich hoffe, dass Deine Reise nach XXXX nicht zu kompliziert war. Im Vorfeld von XXXX s Besuch bei XXXX haben Mr. Green und ich diese Briefe gesammelt in der Hoffnung, dass sie Dich noch vor den Weihnachtsfeiertagen erreichen werden. Damit eines klar ist: Ich bezweifelte die Klugheit des Entschlusses, dieses Bündel zusammenzustellen, da es, sollte es abgefangen werden, theoretisch Belastendes enthalten könnte. Doch nach einer eindringlichen Belehrung der Briefeschreiber kam ich letztlich zu dem Schluss, dass die Vorteile das Risiko übersteigen. Dein Vater, dem ich vor Deiner Zeit zur Seite stand, hätte Dich in den Weihnachtsferien wissen lassen wollen, dass Deine Freunde Dich vermissen.
    Nun zum Geschäftlichen:
     
    Betreff: Meine Vormundschaft für Nataliya
    Ich habe die Unterlagen wie besprochen zusammengestellt und das Verfahren in die Wege geleitet.
     
    Betreff: Deine Flucht aus New York
    Auch wenn es in den Tagen danach ein gewisses Interesse an Deinem Verschwinden gab, ließ die Stadt offiziell verlautbaren, sie hätte weder die finanziellen noch die personellen Mittel, um Anya Balanchine aufzustöbern.
     
    Betreff: Wann Du zurückkehren kannst
    In der Staatsanwaltschaft sitzen neue Leute, und ich weiß nicht, ob sie Verständnis für unsere Interessen haben oder nicht.
     
    Betreff: Dein Onkel Yuri
    Er lebt noch.
     
    Betreff: Das Familiengeschäft
    Mr. Green glaubt, dass Fats eventuell versucht, eine aktivere Rolle in der Firma einzunehmen.
     
    Lass Dir sagen, dass Du oft in meinen Gedanken bist, auch in denen von Keisha und Grace.
    Frohe Feiertage wünscht
     
    S. Kipling
    *
    5 . Dezember 2083
    Liebste Schwester,
    (gefällt Dir diese Anrede? Habe ich in einem Buch von Imogen gelesen.)
    Jetzt ist es schon zwei Monate her, seit Du verschwunden bist. Zuerst war ich sauer, aber dann erklärte mir Simon Green, dass Du niemandem sagen konntest, wohin Du gehst oder dass Du überhaupt gehen würdest, deshalb habe ich Dir mehr oder weniger verziehen. Das ist das Schöne an Schwestern, wenn ich das sagen darf.
    Hier war es erträglich – zuerst habe ich »okay« geschrieben, aber ich dachte, Dir wäre ein genaueres Wort lieber. Am Tag nach Deiner Flucht wurde unsere Wohnung durchsucht, aber es wurde nichts gefunden.
    Die Schule ist auch erträglich.
    Manchmal kommt Win mich besuchen. Er ist so nett, Anya. Ernsthaft, er ist der netteste Junge der Welt. Hin und wieder bringt er mich zum Unterricht, sogar an Thanksgiving ist er eine Weile bei uns gewesen.
    Ach ja, Charles Delacroix hat die Wahl verloren! Hast Du das dort gehört, wo Du bist? Ich glaube, Win hat sich darüber gefreut, aber bei der Rede zur Wahlniederlage hat er an der Seite seines Vaters gestanden.
    Es ist noch etwas passiert: Scarlet ist schwanger. Ich weiß, dass sie Dir auch einen Brief schreibt, deswegen wirst Du wohl von ihr mehr dazu hören. Sie will nicht sagen, wer der Vater ist, aber alle glauben, es ist Gable Arsley, auch wenn er nicht mehr ihr Freund ist. In der Schule sind die anderen irgendwie gemein zu Scarlet. Einmal habe ich sie weinend auf der Toilette im zweiten Stock entdeckt, und sie sagte, wie sehr Du ihr fehlen würdest, wie sehr sie sich wünschte, Du wärst bei ihr. Sie war so traurig. (Das Komische ist, ich war selbst zum Weinen dort hochgegangen.)
    So, das ist es im Großen und Ganzen. Ich denke ständig an Dich. Ich frage mich, wo Du bist, und ich hoffe, alle dort sind nett zu Dir.
    Wie schon gesagt, Anya, ich bin nicht sauer, aber es wäre schön gewesen, wenn Du mir gesagt hättest, wo Du hingehst. Ich bin Deine Schwester, und ich hätte lieber selbst entschieden,