Edelherb: Roman (German Edition)
in dem Moment musste ich an Imogen denken. Nach Nanas Tod hatte ich Imogen unaussprechliche Taten vorgeworfen. Ausgerechnet ihr, die nichts anderes getan hatte, als sich um Nana, Natty und mich zu kümmern. Und jetzt war Imogen tot. Wegen uns.
Dann musste ich an Theo denken. Die Ärzte sagten, sein Zustand sei stabil, dennoch konnte er durchaus noch sterben. Was würden sie auf der Plantage ohne ihn machen? Theo managte den Laden, und wegen mir würde er das sehr lange nicht tun können. Dann kehrten meine Gedanken wieder zu Leo zurück. Ich begann mich zu fühlen, als ob ich nie wieder … schlafen … würde …
Gegen vier Uhr morgens landete das Flugzeug in Long Island. Ich schaute aus dem Fenster. Die Landebahn war beruhigend verlassen. Als ich die Treppe hinunterstieg, erhaschte ich den ersten Hauch New Yorker Luft – schmutzig und süß. Obwohl es mir in Mexiko gut gefallen hatte und ich mir gewünscht hätte, unter besseren Umständen zurückzukehren, war ich froh, dass meine Stadt mich wiederhatte. Es war übrigens eiskalt. Ich trug noch immer die Kleidung, die ich beim Besuch der Fabriken in Oaxaca angehabt hatte, wo es über zwanzig Grad warm gewesen war.
Ein einsames Fahrzeug, ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben, stand auf dem Parkplatz. Auf der Fahrerseite war die Fensterscheibe ungefähr zehn Zentimeter geöffnet, dahinter sah ich Simon Green schlafen. Ich klopfte an das Glas, und er erschrak. »Annie, steig ein, steig ein!«, sagte er und entsperrte die Schlösser.
»Keine Polizei«, bemerkte ich, kaum dass ich saß.
»Wir hatten Glück.« Simon Green schob den Schlüssel in die Zündung. »Ich dachte, ich bringe dich in mein Apartment in Brooklyn. Der Mord an Imogen hat ganz schön viel Wirbel verursacht, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Wohnungen von Mr. Kipling und dir werden geradezu belagert.«
»Ich muss Natty noch heute Nacht sehen«, beharrte ich. »Wenn sie bei Mr. Kipling ist, dann will ich da auch hin.«
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Annie. Wie schon gesagt …«
Ich unterbrach ihn: »Leo ist tot, Simon, und ich möchte, dass meine Schwester das von niemand anderem als von mir erfährt.«
Im ersten Moment war Simon sprachlos. »Das tut mir leid. Das tut mir wirklich furchtbar leid.« Er räusperte sich. »Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.« Simon schüttelte den Kopf. »Glaubst du, dass Yuji Ono etwas damit zu tun hat?«
»Keine Ahnung. Er leugnet es, aber … Das ist jetzt auch unwichtig. Ich will einfach nur Natty sehen.«
»Hör zu, Annie, du hast gerade einen sehr großen Verlust erlitten. Du bist müde und überwältigt, aus völlig verständlichen Gründen, deshalb nimm meinen Ratschlag bitte ernst. Es wäre sehr viel besser für Natty und dich, wenn du heute Nacht nicht von der Polizei gefasst würdest. Wir sollten deine Kapitulation aushandeln, falls man sie für notwendig halten sollte. Komm, ich fahre dich jetzt erst mal in meine Wohnung – da wird niemand nach dir suchen – und verspreche dir, als Erstes morgen früh Natty zu dir zu bringen.«
Ich nickte zustimmend.
Den Rest der Fahrt unterhielten wir uns nicht, obwohl ich merkte, dass Simon Green gerne mit mir gesprochen hätte. »Du hast Blut am Ärmelbündchen«, bemerkte er, als wir nach Brooklyn hineinfuhren. Ich schaute auf meinen Pulli: Es stammte entweder von Theo oder von dem maskierten Attentäter.
Simons Wohnung befand sich im fünften Stock eines alten Hauses ohne Fahrstuhl. Die Treppen waren steil und quietschten. Nach drei Etagen wäre ich am liebsten stehen geblieben. Wenn man völlig erschöpft ist, sind es manchmal die kleinen Tätigkeiten, die am unerträglichsten erscheinen. »Ich schlafe hier auf dem Treppenabsatz«, sagte ich.
»Komm, Anya!« Simon trieb mich weiter.
Schließlich erreichten wir sein Apartment. Es war groß für die Innenstadtlage, das einzige in dem Stockwerk, aber es bestand nur aus einem Zimmer. Die Decke war gewölbt, da wir uns direkt unterm Dach befanden. Simon Green wohnte in einer Dachkammer. Er sagte, ich könne sein Bett haben, er würde auf der Couch schlafen.
»Annie, ich fahre jetzt wieder zu Mr. Kipling. Kann ich dir noch irgendwas holen?«, fragte Simon. Er unterdrückte ein Gähnen, dann nahm er seine Brille ab und putzte sie.
»Nein, Simon, alles in Ordnung. Ich bin …« (Und wenn ich kurz vorher noch davon überzeugt war, dass ich nie wieder würde weinen können, erwies sich nun, dass ich
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