Edelherb: Roman (German Edition)
Mittlerweile war Theo ohnmächtig geworden.
Ich erklärte Luz und Luna, so gut ich konnte, was geschehen war, obwohl ich es selbst nicht verstehen konnte.
Im Krankenhaus wiederholte ich die Geschichte vor der zuständigen Polizei, man stellte mir Fragen, die Luna für mich übersetzte.
Nein, ich kannte diesen Mann nicht. Nein, ich hatte sein Gesicht nicht gesehen. Nein, ich wusste nicht, warum er auf der Plantage gewesen war. Ja, ich hatte ihm die Hand abgeschnitten. Nein, ich hatte sie nicht mitgenommen. Sie müsste immer noch auf dem Feld liegen, zusammen mit seiner Waffe.
»Und wie heißen Sie?«, fragte einer der Beamten.
Ich antwortete nicht sofort, so dass Luna mir zuvorkam. »Das ist Anya Barnum. Sie wohnt bei uns, um etwas über das Kakaogeschäft zu lernen. Sie ist sehr eng mit Theo befreundet und eine gute Freundin unserer Cousine, und es gefällt mir überhaupt nicht, wie sie hier von Ihnen befragt wird.«
Schließlich brach die Polizei auf, um sich auf die Suche nach der Waffe, der Hand und dem einarmigen Maskierten zu machen.
Luna tätschelte meinen Arm. »Das ist nicht deine Schuld«, sagte sie. »Wir haben viel Konkurrenz in der Branche. Bisher war es zwar noch nie gewalttätig, aber … Ich verstehe das alles nicht!« Luna begann zu weinen.
Ein Arzt kam heraus, um mit uns zu sprechen. »Das Projektil hat seine Lunge und die Luftröhre durchschlagen. Sein Zustand ist ernst, aber im Moment stabil«, erklärte er auf Spanisch. »Sie können nach Hause gehen, wenn Sie möchten.«
»Ist er wach?«, fragte Theos Mutter.
Der Arzt sagte, Theos Familie könne ins Zimmer gehen, deshalb begab ich mich ins Foyer, um ein R-Gespräch zu führen.
Es war fast Mitternacht, in New York musste es elf Uhr abends sein. Ich wusste, dass ein Anruf gefährlich war, denn er konnte die Behörden auf meine Spur führen, doch ich musste unbedingt mit Mr. Kipling sprechen. Ich musste nach Hause.
Ich wählte seine Nummer. Obwohl es schon spät war, meldete er sich sofort, und ich merkte, dass er hellwach war. Als ich meinen Namen nannte, klang er nicht einmal überrascht, von mir zu hören.
»Anya, wie hast du das so schnell erfahren?«
Ich war verwirrt. Ich überlegte, ob er irgendwo gehört haben konnte, dass auf Theo Marquez geschossen worden war. »Und Sie?«, fragte ich.
»Ich … deine Schwester Natty hat mich angerufen. Sie ist jetzt hier bei mir.«
»Warum sollte Natty Sie anrufen? Warum ist sie bei Ihnen? Warum ist sie nicht zu Hause?«
»Moment«, sagte Mr. Kipling. »Ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Dingen. Erzähl du zuerst.«
»Theobroma Marquez wurde angeschossen. Und ich glaube, der Schütze wollte eigentlich mich umbringen.«
Mr. Kipling räusperte sich. »Oh, Anya, das tut mir so leid.«
»Ich … ich will nach Hause. Ich möchte den Marquez’ nicht noch mehr Probleme bereiten. Auch wenn ich dann nach Liberty müsste«, fügte ich hinzu.
»Verstehe«, sagte Mr. Kipling. Er klang unkonzentriert.
»Wovon haben Sie denn eben gesprochen?«, fragte ich.
»Anya, die Lage hier ist sehr ernst, und es gibt keine schonende Art, dir das beizubringen: Imogen Goodfellow ist tot.«
Ich konnte die Nachricht kaum begreifen. Wie sollte ich in einer Welt leben, in der Imogen Goodfellow tot war? Imogen, die Papierbücher liebte und sich so aufopfernd um Nana gekümmert hatte. Imogen, meine Freundin.
»Sie starb, weil sie deine Schwester beschützte. Die beiden wurden auf der Straße vor eurer Wohnung angegriffen, und Imogen geriet zwischen Natty und eine Kugel. Sie starb auf dem Weg zum Krankenhaus. Natty wurde umgehend zu mir gebracht. Sie war natürlich außer sich und musste ruhiggestellt werden. Anya, bist du noch da?«
»Ja.« Ich konnte immer noch nicht ganz glauben, was ich da hörte. »Meinen Sie, der Angriff auf mich und der auf Natty haben miteinander zu tun?« Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, wusste ich, dass es stimmte.
»Das befürchte ich«, sagte Mr. Kipling. »Bis zu deinem Anruf hatte ich gehofft, der Anschlag auf deine Schwester sei nur ein willkürlicher Gewaltakt gewesen.«
»Versucht da jemand, die Kinder von Leonyd Balanchine loszuwerden?« Unwillkürlich musste ich an meinen Bruder in Japan denken.
»Leo«, sagten Mr. Kipling und ich gleichzeitig.
»Ich rufe Yuji Ono an«, erklärte ich.
Ich legte auf und meldete sofort das nächste R-Gespräch an, diesmal bei Yuji Ono. Er ging nicht ans Telefon. Ich schlug den Hörer gegen die Wand. Am liebsten hätte
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