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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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in dieser Hinsicht zu optimistisch gewesen war.)
    Ich sank auf die Knie und spürte, wie sie schmerzten, als sie auf dem Holzboden auftrafen. »Leo«, schluchzte ich. »Leo, Leo, Leo. Es tut mir so leid, so leid, so leid …«
    Unbeholfen legte mir Simon Green eine Hand auf die Schulter. Es war keine besonders tröstende Geste, doch war ich dankbar für das Gewicht, das ich spürte.
    Ich begann zu hyperventilieren und bekam das Gefühl zu ersticken. Simon half mir aus meinen blutigen Sachen, als wäre ich ein Kleinkind, dann lieh er mir ein T-Shirt und brachte mich ins Bett.
    Ich sagte ihm, ich wolle sterben.
    »Nein, das willst du nicht.«
    »Wohin ich auch gehe, überall ist Gewalt. Ich kann ihr nicht entkommen, weil ich sie mitbringe. Und ich will nicht in einer Welt leben, in der ich keinen Bruder mehr habe.«
    »Es gibt noch andere, die dich lieben und dich brauchen, Anya. Denk mal an Natty!«
    »Ich denke ja an sie. Ständig. Ich denke, dass sie ohne mich vielleicht besser dran wäre.«
    Simon legte die Arme um mich. So nah war ich ihm noch nie gewesen, er roch nach Pfefferminze. Simon Green schüttelte den Kopf. »Wäre sie nicht. Glaub mir, das wäre sie nicht. Natty kann nur Natty sein, solange du Anya bist.« Vorsichtig löste er sich von mir. »Schlaf ein bisschen. Wenn ich zurückkomme, bringe ich Natty mit, okay?«
    Ich hörte, wie sich die Tür schloss und doppelt gesichert wurde, dann schlief ich ein.
    Als ich erwachte, schaute mich eine weiße Katze mit einem schwarzen Fleck auf dem Rücken an. Sie lag in den Armen meiner Schwester. »Wusstest du, dass Simon eine Katze hat?«, fragte Natty.
    Ich war zu verstört gewesen, um es zu bemerken, doch nun, da meine Schwester es erwähnte, merkte ich, dass seine Wohnung leicht nach Katzenstreu roch.
    »Sie ist eine Kämpfernatur«, erklärte Simon Green. »Geht nachts gerne streunen.«
    Ich sah Natty an. Ihre Augen waren rot vom Weinen, sie wirkte noch älter und größer als bei unserer letzten Begegnung. Sie setzte die Katze ab, und ich zog meine Schwester liebevoll an mich. Mit den Köpfen stießen wir zusammen. Ich war nicht daran gewöhnt, dass sich ihr Kopf so weit oben befand.
    »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Natty. »Ich wusste es.«
    Um uns ein wenig Zeit zu zweit zu geben, sagte Simon Green, er würde einen Spaziergang machen.
    »Es war furchtbar, Annie. Wir waren draußen auf der Straße vor unserem Haus, da stand wie aus dem Nichts ein Mann vor uns, und Imogen wollte ihm ihre Handtasche geben. ›Nehmen Sie sie‹, sagte Imogen. ›Nehmen Sie sie einfach. Ich habe nur zweiundzwanzig Dollar dabei.‹ Er griff sich ihre Tasche, und zuerst dachten wir, er würde verschwinden, doch dann warf er sie weg. Imogens sämtliche Habseligkeiten fielen heraus – ihre Bücher, ihr Tagebuch und alles! Ich weiß noch, dass ich dachte, wir würden bestimmt nicht wieder alles zusammensuchen können. Dann zielte der Mann mit seiner Waffe auf meinen Kopf, doch Imogen sprang dazwischen. In dem Moment knallte es, aber ich konnte nicht sehen, wo sie getroffen worden war. Es war sonderbar, weil der Schuss so nah war, dass ich das Gefühl hatte, selbst getroffen worden zu sein. Ich sackte ebenfalls zu Boden. Ich glaube, das lag am Knall.«
    »Das war klug von dir«, sagte ich. »Der Attentäter dachte, er hätte dich erwischt, und haute ab.«
    »Was meinst du mit ›erwischt‹?«
    Natty wusste noch nicht, dass alle drei Geschwister mit den Attentaten hatten umgebracht werden sollen. Sie wusste noch nichts von Leo. Ich erzählte ihr, was mir in Mexiko passiert war, dann berichtete ich von Leo.
    Sie weinte nicht. Sie blieb völlig reglos.
    »Natty?« Ich berührte sie am Arm, doch sie entzog sich mir.
    Ich sah ihr in die Augen. Sie wirkte nachdenklich, nicht erschüttert. »Wenn du Yuji Ono nicht traust, woher willst du dann sicher wissen, dass Leo tot ist?«, fragte sie.
    »Ich weiß es einfach, Natty. Yuji Ono hätte keinen Grund, uns zu erzählen, Leo sei tot, wenn das nicht stimmen würde.«
    »Das glaube ich nicht! Wenn man die Leiche nicht gesehen hat, kann man nicht mit Sicherheit wissen, dass einer wirklich tot ist!« Ihre Stimme war schrill geworden. Sie klang hysterisch, kreischte. »Ich will nach Japan fliegen. Ich will das mit eigenen Augen sehen!«
    Simon Green kehrte von seinem Spaziergang zurück. Es hatte zu regnen begonnen, sein Haar war feucht. »Denk doch mal drüber nach, Natty«, sagte er sanft. »Anya und du, ihr wurdet beide in

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