Edelherb: Roman (German Edition)
derselben Nacht angegriffen. Ihr hattet beide Glück und konntet entkommen. Euer Bruder nicht.«
Natty sah mich an. » DAS IST DEINE SCHULD ! Du hast ihn nach Japan geschickt. Wenn er hiergeblieben wäre, säße er jetzt vielleicht im Gefängnis, aber wenigstens wäre er noch am Leben. Er wäre noch am Leben!«
Sie lief in Simons Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Die kann man nicht verschließen«, flüsterte er.
Ich ging ihr nach. Natty stand in der Wanne und hatte mir den Rücken zugekehrt. »Ich komme mir blöd vor«, sagte sie verzweifelt. »Aber ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«
»Ja, Natty, es stimmt, ich habe Leo nach Japan geschickt. Auch wenn das ein Fehler war, gab es zu dem Zeitpunkt nichts Besseres, das ich hätte tun können. Wir werden nach Japan fahren, um Leo zu bestatten, aber jetzt auf der Stelle geht das nicht. Es ist zu gefährlich, und ich muss hier einiges erledigen.«
Langsam drehte sie sich zu mir um. Ihre Augen waren rot und wütend, aber trocken. Sie öffnete den Mund und wollte gerade etwas sagen, da kamen die Tränen. »Er ist tot, Annie. Leo ist tot. Leo ist wirklich tot.« Sie holte den kleinen Holzlöwen aus ihrer Tasche. »Was sollen wir jetzt tun? Ohne Imogen. Ohne Leo. Ohne Nana. Ohne Mom und Daddy. Wir haben niemanden, Anya. Wir sind jetzt wirklich Waisen.«
Ich wollte sagen, dass wir uns gegenseitig hatten, doch das kam mir zu kitschig vor. Deshalb zog ich sie nur an mich und ließ sie weinen.
Simon Green klopfte an die Tür. »Anya, ich muss Natty jetzt zu Mr. Kipling zurückbringen. Er möchte meine Wohnung als sicheren Ort für dich nicht aufs Spiel setzen.«
Ich nahm Nattys Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn, dann war sie fort.
Anschließend setzte ich mich auf Simon Greens Bett, und die Katze sprang mir auf den Schoß. Ich betrachtete das Tier, und es schaute mit grauen Augen zurück, die mich an meine Mutter erinnerten. Die Katze wollte am Rücken gekratzt werden, ich tat ihr den Gefallen. Es gab so viele Dinge, die ich nicht ändern konnte, doch gegen das Jucken der Katze konnte ich etwas tun.
Ich versuchte mir vorzustellen, welchen Rat Daddy mir für die Lage gegeben hätte, in der ich mich befand.
Was würde Daddy sagen?
Daddy, was würdest du tun, wenn dein Bruder aufgrund deiner Entscheidung tot wäre?
Mir wollte nichts einfallen. Auch Daddy wusste nicht immer einen Rat.
Es wurde immer dunkler im Zimmer, doch ich machte mir nicht die Mühe, das Licht anzuschalten.
Imogens Beerdigung würde zwei Samstage später stattfinden, und ich wollte mit Natty hingehen, um Imogen die letzte Ehre zu erweisen. Das Problem war, dass ich immer noch als flüchtig galt, deshalb beschloss ich, die Zeit sei gekommen, um diese Situation zu klären. Ich konnte kaum den Rest meines Lebens in Simon Greens Dachkammer verbringen. Die sechs Tage, die ich dort schon wohnte, waren lang genug.
Der einzige Mensch, den ich von der Wohnung aus anrufen durfte, war Mr. Kipling.
»Drei Sachen«, sagte ich zu Mr. Kipling und Simon Green, der ebenfalls im Büro war. »Ich möchte zu Imogens Beerdigung gehen. Ich möchte mich dem Staat ausliefern. Und ich möchte organisieren, dass Natty auf ein Internat geht, vorzugsweise in einem anderen Bundesstaat oder im Ausland.«
»Gut«, sagte Mr. Kipling. »Gehen wir eins nach dem anderen durch. Das Internat ist kein Problem. Ich werde als Erstes mit dieser Lehrerin von Natty reden, die sie so gerne mag.«
»Sie meinen Miss Bellevoir.«
»Genau die«, sagte Mr. Kipling. »Und ich finde, das ist ein guter Plan, auch wenn wir wahrscheinlich erst im nächsten Schuljahr in der Lage sein werden, ihn in die Tat umzusetzen. Weiter. Ich befürchte, wenn du den Gottesdienst für Imogen Goodfellow besuchst, wirst du verhaftet, was bedeutet, dass wir die Bedingungen deiner Auslieferung vorher absprechen müssten.«
»Ich hatte schon vor den Ereignissen vom letzten Freitag begonnen, Kontakt zur neuen Staatsanwaltschaft aufzunehmen«, ließ sich Simon Green vernehmen.
»Du hast aber nicht vergessen, dass es die Wahlkämpfer von Bertha Sinclair waren, die diese Spende an Trinity geleistet haben, oder?«, fragte ich.
»Das war reine Politik«, sagte Mr. Kipling. »Es hatte nichts mit dir zu tun, und es ist sogar von Vorteil für uns, dass Charles Delacroix verloren hat, da die Verwaltung unter Sinclair sich nun im Grunde genommen von allen Maßnahmen des Vorgängers distanzieren kann. Sinclairs
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