Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
über Nacht verschwunden.
Quälende Tage und Nächte folgten, bis man seinen toten Körper fand. Auf ihre behutsame
Nachfrage erzählte Henriette Medzig, ihr Mann sei in den Freitod gegangen. Seine
Leiche sei nie gefunden worden und liege vermutlich in einem unzugänglichen Dickicht
auf der Hallgarter Zange, einer Bergkuppe oberhalb von Hallgarten im Rheingau.
»Im Wald
dort ist er am liebsten spazieren gegangen. Es tut weh, wenn man den eigenen Mann
nicht beerdigen kann.«
»Darf ich
fragen, seit wann ihr Mann verschollen ist?«
Das sei
1985 geschehen, lautete die Antwort.
»Im Jahr
des Glykolskandals«, warf Lutz ein.
Henriette
Medzig legte mit einer schnellen Geste die Hände an die Wangen. »Hören Sie mir auf
mit diesem entsetzlichen Jahr. Es war der Anfang vom Ende unseres Weinguts. Gehen
wir zurück?«
Sie bog
in einen weiteren Gang ein. Norma schaute sich zur Staatsanwältin um, die mit großem
Abstand folgte. Endlich erreichten sie wieder den Hauptgang.
Der Makler,
der sich während der Erkundung mit Bemerkungen zurückgehalten hatte, meldete sich
zu Wort. Mit ausgestreckter Hand deutete er hinauf zum Deckengewölbe. »Das hält
ewig. Wir haben die Statik prüfen lassen.«
»Kommst
du bitte mal!« Lutz zupfte Norma am Ärmel und zog sie in einen kürzeren Seitengang
hinein. Vor der Stirnwand stand ein mannshohes Weinfass.
»Das ist
Zeitverschwendung. Lass uns fahren!«, bat sie.
»Wieso denn?«,
gab er flüsternd zurück. Seine Augen glitzerten voller Entzücken. »Der Keller ist
der Wahnsinn.«
»Hier unten
brauchst du den Faden der Ariadne! Was willst du mit so viel Kellerraum anfangen?«
»Oh, mir
fallen die unterschiedlichsten Verwendungen ein. Konzerte. Kunstausstellungen. Undine
wird hin und weg sein.«
»Warum nicht
gleich eine Geisterbahn?«
Er lächelte
beglückt. »Der Keller ist ein Traum, Norma.«
»Wohl eher
ein Albtraum!«
Er legte
die Hände auf das schwärzliche Holzfass, das ihm bis zur Stirn reichte. Er wandte
sich um und rief in den Gang hinein: »Ist noch Wein in diesem Fass?«
»Nein, nein,
die Fässer sind alle leer«, klang Henriette Medzigs Stimme herüber.
Norma bemerkte
eine kleine Tür an der Frontseite.
Lutz bückte
sich und ruckelte an der Verriegelung, bis sich das Türchen einen Spaltbreit öffnen
ließ. »Das nennt man ein Mannloch. Gelegentlich muss so ein Fass gereinigt werden.«
Henriette
Medzig eilte herbei, mit dem Makler auf den Fersen. »Wir produzieren seit Langem
keinen Wein mehr. Nachdem mein Mann für tot erklärt wurde und kurz darauf auch noch
Harry kündigte, habe ich die Weinberge abgegeben. Der Keller wird seitdem nicht
mehr genutzt.«
»Und ihr
Sohn?«, fragte Lutz. »Wollte er das Weingut nicht weiterführen?«
»Als Ewald
starb, steckte Oliver mitten in der Winzerlehre. Er hätte vielleicht gewollt, war
leider zu jung dafür. Später nahm er eine Stelle in der Sektkellerei an und arbeitet
dort bis heute.«
Lutz wandte
sich wieder dem Weinfass zu. »Beeindruckend! Verkaufen Sie es mir?«
Henriette
Medzig drehte sich mit ausgestrecktem Arm im Kreis. »Hier können Sie kaufen, was
Sie wollen. Aber warum nehmen Sie nicht gleich das gesamte Anwesen?«
Durch den
Hauptgang polterten Schritte und eine aufgebrachte Männerstimme hallte von den Mauern
wider.
Henriette
hielt abrupt inne. »Mein Sohn Oliver! Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«
Während
sie davonhastete, tauchte die Staatsanwältin in eine dunkle Nische ab. Der Makler
tat, als fesselte ihn die Lichtelektrik im Deckengewölbe.
»Was willst
du mit dem Fass, Lutz?«, flüsterte Norma.
»Geteilt
gibt es zwei prima Tauchbecken für die Sauna!«
Eine eigene
Sauna war seit Langem sein Wunsch. Aber ausgerechnet jetzt? »Du willst die Villa
Tann doch verkaufen!«
»Die Sauna
soll nicht in die Villa. Sie kommt ins Verlagshaus.« Eine Sauna für ihn allein,
fügte er hinzu, bedeute Verschwendung. Im Keller des Verlagshauses hätten seine
Mitarbeiter und die Mieter ebenfalls etwas davon.
Philipp
Faber näherte sich unsicher und wurde von der Staatsanwältin ausgebremst, die ihn
mit straffen Schritten überholte. Eine Schnapsfahne stieg Norma in die Nase. Hatte
Frau Dr. die Gelegenheit zum Nachtanken genutzt? Auf jeden Fall besaß sie ein gutes
Gehör.
»Ein Weinfass
als Tauchbecken? Gute Idee!«, sagte sie und musterte das Fass kritisch. »Sofern
es dicht ist.«
»Das lässt
sich überprüfen!« Lutz bückte sich, um das Türchen weiter aufzuziehen.
»Hände
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