Edelweißpiraten
keiner von uns geahnt.
Flint und Kralle sind vor, um die Gegend auszukundschaften. Nadja hatte uns zwar erzählt, die Halle würd nachts nicht bewacht, aber nach unseren letzten Erfahrungen wollten wir lieber sichergehen. Nach ’ner Zeit sind die beiden zurückgekommen und haben uns geholt, sie hatten nichts Verdächtiges bemerkt. Wir sind zu der Halle hin, dann haben Flint und Kralle versucht, mit ihren Werkzeugen eine von den Eisentüren zu knacken. So schnell
wie Rupp und Korittke waren sie nicht, es hat ’ne Weile gedauert. Aber schließlich haben sie’s geschafft, die Tür war auf.
Frettchen und einer von den Ostarbeitern sind draußen geblieben, um Wache zu stehen, wir anderen sind reingeschlichen. Ein paar von uns hatten Taschenlampen. Als wir sie angeschaltet haben, konnten wir erst nicht glauben, was da vor uns lag. Verglichen mit dem, was wir und die meisten Leute aus Ehrenfeld gewohnt sind, war’s die reinste Wunderwelt. Es gab alles, was man sich vorstellen kann: Anzüge, Abendkleider, sogar Pelzmäntel, und das in ’ner Fülle, wie wir’s nie für möglich gehalten hätten.
»So viel zum Thema Volksgemeinschaft«, hat der Lange gesagt, nachdem wir ’ne Zeit lang nur sprachlos dagestanden haben. »Ich hätte nicht übel Lust, den Laden abzufackeln.«
»Vielleicht tun wir’s ja«, hat Flint gemeint. »Aber jetzt noch nicht. Erst nehmen wir uns, was wir brauchen.«
Wir sind ausgeschwärmt und an den Regalen entlanggelaufen, jeder hat sich was Passendes zusammengesucht. Meistens haben wir die neuen Klamotten gleich anbehalten und die alten dafür liegen lassen. Was sollten wir auch noch damit? So was wie ’n Kleiderschrank hat keiner von uns.
Als wir versorgt waren, sind wir in der Mitte der Halle wieder zusammengekommen. Eigentlich wollten wir verschwinden, aber Tilly, Flocke und Nadja konnten von den Sachen nicht lassen. Sie hatten ein Regal mit Kleidern entdeckt, wie sie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht getragen hatten, und wollten zu gern wissen, wie sie darin aussehen.
»Lasst uns lieber abhauen!«, hat Flint gesagt. »Für ’ne Modenschau haben wir keine Zeit.«
Aber Tom und ich, wir haben uns auf die Seite von den Mädchen geschlagen. »Warum denn nicht?«, hat Tom gemeint. »Lass sie doch machen, Flint. Tut ja keinem weh.«
Die drei haben uns das Regal gezeigt, und dann haben sie welche
von den Kleidern anprobiert. Aber sie konnten sich gar nicht entscheiden, immer haben sie noch schönere entdeckt, die mussten sie dann auch gleich anziehen. Wir haben im Kreis um sie rumgesessen, sie mit unseren Taschenlampen beleuchtet und sie angefeuert. Eigentlich waren sie nur noch Striche in der Landschaft, genau wie wir, abgemagert und mit dreckigen Gesichtern. Aber in der Nacht hat uns das nicht gestört: Wir fanden sie wunderschön.
Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass wir alles um uns herum vergessen und einfach nur rumgealbert haben. So wie früher. Am Felsensee oder als wir den Blockwart am Fenstersims festgeklebt oder mit den Polizisten im Park Katz und Maus gespielt haben. Für ’n paar Minuten war’s wieder so. Auch Frettchen und der andere, der Wache halten wollte, sind reingekommen und haben sich dazugesetzt. Wir haben an nichts Böses mehr geglaubt.
Ich weiß nicht, wo die Sicherheitsleute auf einmal hergekommen sind. Wahrscheinlich war’s ’ne Polizeistreife auf Rundgang. Sie sind reingekommen, ohne dass wir’s gemerkt haben, und dann haben sie, wie’s bei Plünderern üblich ist, ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Flocke und Nadja sind in Deckung gegangen, aber Tilly war nicht schnell genug. Eine von den Kugeln hat sie getroffen. Ich glaub, sie hat nichts gespürt. Sie hat nicht mal mehr gestöhnt. Die Kugel muss direkt ins Herz gegangen sein.
Ich kann mich nur noch dunkel dran erinnern, dass Flint und Kralle ihre Pistolen gezogen und zurückgeschossen haben. Wie wir aus der Halle rausgekommen sind, weiß ich nicht mehr. Flocke hat gesagt, Tom und der Lange hätten uns irgendwie mitgezogen – sie und mich. Ich hab keine Erinnerung daran. Ich will auch keine.
Der Gedanke, dass Tilly tot ist und wir sie zurücklassen mussten, macht mich halb wahnsinnig. Es gibt so viel, was ich ihr noch sagen wollte. Jetzt fühl ich mich wie gelähmt. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll – ohne sie.
Das letzte Mal, dass ich den alten Gerlach sah, war am Tag vor seinem Tod. Als ich in sein Zimmer kam, erkannte ich ihn kaum wieder, und selbst wenn die Schwester nicht
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