Edelweißpiraten
»Ich weiß nicht, Flint«, hat sie gesagt. »Ich hab Angst, dass wir alles nur noch schlimmer machen. Wenn wir mit so was anfangen, werden sie doch erst recht auf uns aufmerksam!«
»Anfangen müssen wir ja nicht«, hat Tom gemeint. »Aber das Ding ist ’ne gute Lebensversicherung. Wir können’s mitnehmen, wenn wir nachts losziehen. Um uns zu verteidigen.«
»Verteidigen?«, hat Flint gesagt und den Kopf geschüttelt. »Sag mir mal eins, Tom: Als sie am Felsensee auf uns gepisst und uns zusammengeschlagen haben, als sie uns die Köpfe kahl geschoren und uns im EL-DE-Haus die Scheiße aus dem Leib geprügelt haben – haben die sich da verteidigt?«
»Nein, natürlich nicht. Wieso?«
»Nur so. Denk mal drüber nach, Mann.«
Ein paar Tage später, bei unserer nächsten Aktion, hat Flint die Waffe zum ersten Mal dabei gehabt. In gewisser Weise haben wir uns sicherer gefühlt damit. Trotzdem war ich heilfroh, dass es keinen Zwischenfall gab. Ich war nicht scharf drauf zu erfahren, wie weit Flint gehen würde.
Letzte Nacht war’s dann aber doch so weit. Wir wollten uns ein allerletztes Mal den Bahnhof vornehmen. Eigentlich sollte schon nach der Falle, die uns die Bahnpolizisten gestellt hatten, damit Schluss sein – die Gegend war uns zu heiß geworden. Aber Rupp und Korittke hatten so gute Geschäfte mit den Sachen aus den Zügen gemacht, dass sie unbedingt noch mal hin wollten – und wir haben uns breitschlagen lassen mitzukommen.
Zuerst schien alles glatt zu gehen. Der Zug war nicht mal bewacht, wir konnten ohne Probleme ran. Mit ein paar Handgriffen haben Rupp und Korittke die Tür aufgebrochen, wir wollten reinspringen – da haben wir gesehen, dass der Wagen leer ist. Komplett leer. Im gleichen Moment sind Scheinwerfer angegangen, der ganze Zug war auf einmal in helles Licht getaucht. Von irgendwo hat einer geschrien, wir sollen die Hände hochnehmen und uns ergeben.
Bevor wir wussten, was los ist, hat Flint gebrüllt, wir sollen in Deckung gehen, und dann hat er auch schon die Pistole gezogen
und geschossen. Wir haben uns in den Schotter zwischen den Gleisen geworfen. Aus den Augenwinkeln hab ich gesehen, dass Rupp und Korittke ihre Waffen ebenfalls ziehen, dann ist die Schießerei losgegangen. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, wir haben nur noch die Köpfe eingezogen.
Ich konnte nicht erkennen, wer uns aufgelauert hat. Wahrscheinlich welche vom Sicherheitsdienst, vielleicht auch von der SS. Jedenfalls hat Flint bei dem Schusswechsel einen von ihnen getroffen. Wir konnten ihn schreien und stöhnen hören. Anscheinend hat sie das aus dem Konzept gebracht, denn für ’ne kurze Zeit haben sie aufgehört zu schießen. Wir haben die Gelegenheit genutzt, sind unter dem Zug durchgekrochen, am anderen Ende vom Bahnhof über ’ne Mauer geklettert und verschwunden.
Zurück im Schrebergarten, waren wir zwar erleichtert, dass uns nichts passiert ist – aber auch ganz schön geschockt. Nur Flint, der war in totaler Hochstimmung.
»Jetzt haben wir’s ihnen endlich gezeigt«, hat er gemeint, während er die ganze Zeit um den Tisch getigert ist. »Ich hab’s euch gesagt, Leute. Nicht immer nur weglaufen und verstecken und Angst haben! Jetzt sind
wir
am Zug. Jetzt rächen wir uns dafür, was sie uns angetan haben.«
Er hat sich richtig in Fahrt geredet. Wir anderen haben nur dagesessen und zugehört. Tilly und Flocke haben auf ihren Stühlen gehockt und irgendwie bedrückt ausgesehen, aber gesagt haben sie nichts. Erst später, als wir uns zum Schlafen in unsere Ecken verzogen haben, hab ich Tilly gefragt, was los ist.
Sie hat den Vorhang zugezogen, wie wir’s immer tun, wenn wir für uns sein wollen. »Ist dir eigentlich klar, dass Flocke und ich jedes Mal ’ne Scheißangst haben, wenn ihr loszieht?«, hat sie geflüstert. »Das muss doch nicht noch schlimmer werden, oder?«
»Aber es geht nicht anders, Tilly! Von irgendwas müssen wir schließlich leben.«
»Ach, verdammt, das mein ich doch gar nicht.«
»Na, was dann? Die Pistole?«
Sie hat leise gestöhnt. »Ja, die auch. Aber nicht nur. Es ist noch was anderes. Flint – er ist mir irgendwie unheimlich geworden in letzter Zeit. Er hat sich verändert. Ich hab ’n schlechtes Gefühl bei ihm.«
»Ach, Tilly, jetzt hör mal zu«, hab ich gesagt und sie zu mir rangezogen. »Du bist echt das Beste, was ich hab, weißt du das? Manchmal lass ich mir von dir sogar was sagen, was verdammt nicht oft vorkommt. Aber auf Flint lass ich nichts kommen.
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