Edelweißpiraten
Ohne den wären wir längst unter der Erde. Du musst ihm vertrauen. Der bringt uns schon durch.«
»Ja, ich weiß. Bisher hat er das immer getan. Aber hast du ihm zugehört?« Sie hat noch leiser geflüstert. »Wir haben kein Recht, Leute zu erschießen! Lebensmittel stehlen, um zu überleben, ja. Uns verteidigen, wenn wir angegriffen werden, ja. Aber wir dürfen doch keinen umbringen!«
»Recht?«, hab ich gesagt. »Was soll das sein? Würd mich wundern, wenn du’s mir erklären kannst. Ich weiß es jedenfalls nicht mehr.«
Sie ist ein Stück von mir abgerückt. »Würdest du dabei etwa mitmachen? Ich meine:
Könntest
du dabei mitmachen?«
»Ach, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal – wenn ich an Horst denke oder an Goethe oder an Maja – ist da so ’ne wahnsinnige Wut, dass ich gar nicht mehr weiß, wer ich bin. Keine Ahnung, was ich in so Momenten alles tun könnte.«
Es ist dunkel gewesen, aber ich hab gespürt, dass sie erschrocken ist. »Das darfst du nicht!«, hat sie gesagt. »Wenn du so was tun würdest, wärst du nicht mehr der Gleiche für mich.«
»Vielleicht bin ich’s ja schon nicht mehr, Tilly. Vielleicht bin ich’s schon seit dem EL-DE-Haus nicht mehr.«
Sie hat ’ne Zeit lang schweigend dagelegen, dann ist sie wieder
näher zu mir gekommen. »Irgendwann leben wir in Frieden zusammen. Hörst du? Nur wir beide. In ’nem kleinen Häuschen an ’nem See. Und wir haben Kinder. Die haben immer genug zu essen. Und das Wort Krieg, das kennen die überhaupt nicht.«
»Ach, Tilly«, hab ich gesagt. »Mach dir nichts vor. Es ist sinnlos, sich Sachen zu wünschen, die nie passieren. Selbst wenn die Nazis mal nicht mehr sind: Es ändert nichts. Die Großkotze haben weiter das Sagen, und Leute wie wir sind ihre Fußabtreter. Das bleibt immer gleich. Egal, wer oben zu bestimmen hat.«
»Was meinst du damit: Leute wie wir?«
»Na, Leute, denen nichts dran liegt, irgendwelche Sachen anzuhäufen. Die nichts weiter wollen als Luft zum Atmen, ’n Weg zum Wandern und ’n Lied zum Singen. Uns werden sie immer rumschubsen – egal, wo wir hinkommen.«
Heute hab ich noch ’n paarmal an das Gespräch denken müssen. Jetzt tut’s mir leid, dass ich Tilly in ihren Träumereien unterbrochen hab. Eigentlich mag ich’s, wenn sie so ist. Ich war einfach in ’ner schlechten Stimmung. Demnächst werd ich’s ihr sagen. Muss nur den richtigen Moment abwarten.
24. Januar 1945
Ich wollte das Buch ins Feuer werfen und verbrennen. Hab schon dagestanden und es in der Hand gehabt. Nie hab ich’s einem gezeigt, außer Tilly, und das geht jetzt nicht mehr. Alles ist so sinnlos geworden.
Warum ich’s am Ende doch behalten hab und immer noch daran weiterschreibe, weiß ich nicht. Vielleicht weil ich mir vorstelle, ich könnte die schlimmsten Sachen darin einschließen und mit ihm zusammen wegsperren. Und dann wären sie vergessen, solang ich sie vergessen will – aber dennoch nicht verloren.
Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht damit, dass der Lange sich mit einer von den Ostarbeiterinnen angefreundet hat. Sie heißt Nadja und gehört zu denen, die hier in den Gärten sind. Vor ein paar Tagen hat sie ihm erzählt, in der Nähe vom Güterbahnhof gäb’s ein Kleiderlager, aus dem sich die Nazis und ihre Familien noch immer mit den feinsten Sachen versorgen würden. Sie hätte mit ein paar anderen Frauen da gearbeitet, bevor sie geflohen wär.
Als wir davon gehört haben, sind wir neugierig geworden. Wir brauchen dringend neue Winterklamotten, denn unsere alten sind zerrissen und voller Löcher und halten die Kälte gar nicht mehr ab. Also haben wir beschlossen, in das Lager einzusteigen. Allerdings ohne Rupp und Korittke. Die Art der beiden geht uns schon länger auf die Nerven. Und außerdem, hat Flint gemeint, hätten er und Kralle jetzt alles von ihnen abgeguckt, was sie wissen müssen. Die notwendigen Werkzeuge hätten sie auch besorgt. Wir bräuchten die Kerle nicht mehr, sie könnten uns gestohlen bleiben.
Vor drei Tagen haben wir die Sache gestartet. Spät abends ist es gewesen, schon tief in der Nacht. Alle waren dabei, auch Tilly und Flocke und Nadja und ’n paar von ihren Freunden. Nadja hat uns gezeigt, wo die Lagerhalle ist. Sie liegt zwischen ein paar zugewachsenen Bahngleisen, die nicht mehr in Betrieb sind. Wir haben immer gedacht, es wär ein altes Fabrikgebäude, das längst leer steht. Was wirklich drin ist, hat
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