Eden Inc.
das Gästezimmer, hatte als Arbeitszimmer gedient. Im letzten Raum blieb Lash stehen und schaute sich neugierig um. Die Wände waren mit hauchdünnen Reispapierdrucken von japanischen Holzschnitten dekoriert. Auf einem Schreibtisch standen mehrere gerahmte Fotografien: Lewis und Lindsay Thorpe, Arm in Arm vor einer Pagode. Und wieder die Thorpes: auf einer Straße, die wie die Champs-Elysees aussah. Sie lächelten auf jedem Bild. Lash hatte Menschen nur selten so lächeln sehen: schlichtes, unverfälschtes, reinstes Glück.
Er trat an die Wand gegenüber, die vollständig von einem Bücherregal eingenommen wurde. Die Thorpes waren echte Leseratten gewesen. Die beiden obersten Regalbretter waren voll mit Lehrbüchern in unterschiedlichen Stadien der Zerlesenheit; ein anderes wimmelte von Fachzeitschriften. Darunter: mehrere Bretter mit Romanen.
Ein Brett stach Lash besonders ins Auge. Die Bücher, die dort standen, wirkten, als würde ihnen eine besondere Behandlung zuteil: Sie wurden von Statuen aus gemeißelter Jade gestützt. Er schaute sich die Titel an: Zen und die Kunst des Bogenschießens, Japanisch für Fortgeschrittene, Zweihundert Gedichte aus dem Frühwerk T’Angs. Das Regalbrett darüber war bis auf ein ungerahmtes Foto von Lindsay Thorpe leer: Auf dem Bild saß sie, von Kindern umgeben, auf einem Karussell und breitete lachend die Arme in Richtung Kamera aus. Lash nahm das Foto in die Hand. Auf die Rückseite hatte jemand mit männlicher Handschrift geschrieben:
Ach, wäre ich dir doch so nahe
wie der feuchte Rock
dem Körper eines Salzmädchens.
Ich denke stets an dich.
Lash legte das Foto sorgfältig wieder hin, verließ das Arbeitszimmer und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Draußen verzog sich schon der Morgendunst. Schräg einfallende Sonnenstrahlen erleuchteten nun auf die Seidenbrücken. Lash begab sich zum Ledersofa, schob die Umschläge beiseite und setzte sich hin. Er war als Agent der Ermittlungseinheit schon sehr oft durch Häuser gegangen und hatte versucht, ein Gefühl für den Krankheitszustand seiner Bewohner zu gewinnen. Doch damals war es ganz anders gewesen: Er hatte für die NCACP Persönlichkeitsprofile erstellt und die private Hölle von Massenmördern, Serienvergewaltigern, Blitz-Angreifern und Soziopathen studiert. Da war es um Menschen und Häuser gegangen, die mit den Thorpes absolut nichts zu tun hatten.
Er war hergekommen, um nach Hinweisen zu suchen, die vielleicht erklärten, was hier schief gegangen war. In den letzten drei Jahren hatte er das getan, was Kliniker psychologische Autopsie nannten: Er hatte diskrete Gespräche mit Familienangehörigen, Freunden, Ärzten und sogar mit einem Geistlichen geführt. Doch was anfangs wie ein leicht lösbarer Schema-F-Fall ausgesehen hatte, war schnell zu etwas anderem geworden: Es existierten keine Stress- oder Risikofaktoren, die man normalerweise mit einem Selbstmord in Zusammenhang brachte. Es gab keinen Hinweis auf frühere Selbstmordversuche. Keine Unterlagen über Geisteskrankheiten. Nichts, das einen, geschweige denn zwei Suizide ausgelöst haben könnte. Im Gegenteil: Die Thorpes hatten alles gehabt, für das zu leben sich lohnte. Und doch hatten sie in diesem Raum eine Nachricht verfasst, sich Plastiktüten um den Kopf gebunden, sich auf dem Teppichboden umarmt und sich vor den Augen ihres Töchterchens erstickt.
Lash nahm einen Umschlag an sich, riss ihn mit dem Fingernagel auf und kippte den Inhalt auf das Sofa: von der Polizei in Flagstaff gesammelte dokumentarische Beweise. Darunter auch ein dünner Stapel Hochglanzfotos, von einer Klammer zusammengehalten. Lash schaute sie sich der Reihe nach an.
Kriminalpolizeiliche Aufnahmen des Ehemannes und seiner Gattin, im Tod vereint, starr auf dem schönen Teppich. Er legte sie hin und nahm eine Fotokopie des »Abschiedsbriefes« zur Hand. Da stand nur: »Kümmert euch bitte um unsere Tochter.«
Daneben lag ein dickeres Dokument: das amtliche Polizeiprotokoll. Lash blätterte es langsam durch. Weder der Ehemann noch die Ehefrau hatte das Haus am Abend vor der Entdeckung ihrer Leichen verlassen. Die Bänder der draußen angebrachten Überwachungskamera hatten gezeigt, dass in diesem Zeitraum niemand das Haus betreten hatte.
Der stumme Alarm war erst am nächsten Morgen von einer neugierigen Nachbarin ausgelöst worden. Auf der Rückseite des Protokolls befand sich die Niederschrift der Aussage der Nachbarin.
AMTLICHE NIEDERSCHRIFT EIGENTUM DER POLIZEI
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