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Eden

Eden

Titel: Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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ersticken. Die Taschenlampe hüpfte mit dem Glas unter seinem Kinn, riss Gesichtchen ohne Augen, ohne Nase, ohne Mund aus dem Dunkel, flache, greisenhafte, herabhängende Gesichtchen, und alle waren wie mit Wasser übergossen. Er spürte die Schläge, die ihm die Buckel versetzten. Einen Augenblick lang war etwas Luft um ihn, dann wurde er wieder gepreßt, mit dem Rücken gegen die Wand geworfen. Er stieß mit dem Nacken gegen eine kleine Säule, hielt sich an ihr fest, versuchte sich an sie zu drücken. Die neuen Wogen der Herandrängenden warfen ihn zurück. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, kämpfte nur darum, stehenzubleiben. Wenn er hinfiel, bedeutete das den Tod. Er ertastete eine steinerne Stufe, nein, es war ein Stück Felsen. Er kletterte hinauf und hob die Taschenlampe über den Kopf.
    Das Bild, das sich ihm bot, war erschreckend. Ein Meer von Köpfen wogte von einer Wand zur anderen. Die vor der Nische standen, starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. Er sah ihre verzweifelten Bemühungen, sich krampfhaft, wie von einem Schauder erfaßt, von ihm zu entfernen. Aber als Teil der nackten Masse wurden sie in die Gasse gedrängt, und wer sich an den Rändern befand, wurde an die Mauern gequetscht. Gräßlicher Lärm erfüllte den Platz. Da erblickte er den Doktor wieder. Er hatte keine Taschenlampe und bewegte sich, vielmehr schwamm in der Menge, bald vorwärts, bald zur Seite, wie verloren zwischen den großen Rümpfen, die ihn überragten. Irgendwelche Fetzen flatterten in der Luft. Der Chemiker wehrte sich nun gegen die Herandrängenden mit dem Elektrowerfer, den er am Kolben und am Magazin festhielt, so gut er konnte. Er spürte, wie ihm die Hände erlahmten. Die feuchten, schlüpfrigen Leiber stießen wie Sturmböcke gegen ihn vor, sprangen zurück, hetzten weiter. Die Menge lief allmählich auseinander, aber in der Dunkelheit strömten neue Scharen heran. Die Taschenlampe erlosch. Ein Hin und Her, ein Stammeln, ein Stöhnen inmitten undurchdringlicher Finsternis. Der Schweiß rann ihm in die Augen, er sog die Luft ein, die in den Lungen brannte, und war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Er sank auf die steinerne Stufe, lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalten Felsen, rang nach Atem. Er konnte nun einzelnes Stampfen unterscheiden, lange, klatschende Sätze. Der lamentierende Chor entfernte sich. Er stützte sich mit den Händen gegen die Wand und richtete sich auf. Seine Knie waren wie aus Watte. Er wollte den Doktor rufen, doch die Stimme versagte ihm. Plötzlich riss ein weißlicher Schein die Krone der gegenüberliegenden Mauer aus der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass das wohl der Koordinator war, der ihnen mit einem Magnesiumfeuer die Richtung für den Rückweg anzeigte.
    Er bückte sich und suchte die Taschenlampe. Er wusste gar nicht mehr, wann sie ihm aus der Hand geschlagen worden war. Am Boden war die Luft voll scheußlichen faden Gestanks, den er nicht ertrug, er bekam Krämpfe davon. Er stand auf. In der Ferne hörte er einen Schrei — die Stimme eines Menschen. »Hier, Doktor, hier!« brüllte er. Ein erneuter Schrei antwortete ihm, schon näher. Eine Lichtzunge tauchte zwischen den schwarzen Mauern auf. Der Doktor kam rasch auf ihn zu, schwankend, als sei er betrunken.
    »Ach«, sagte er, »du bist hier, gut …« Er packte den Chemiker am Arm. »Sie haben mich ein Stück mitgerissen, aber es gelang mir, mich in einen Flur zu verdrücken … Hast du die Taschenlampe verloren?« »Ja.« Der Doktor hielt sich noch immer an seinem Arm fest. »Nur ein Schwindelgefühl«, erklärte er in ruhigem Ton, aber noch etwas atemlos. »Das ist nichts, das geht gleich vorüber …« »Was war das?« flüsterte der Chemiker, als fragte er sich selbst. Der andere antwortete nicht. Sie lauschten beide in die Finsternis. Wieder näherte sich fernes Stampfen, die Dunkelheit war voller Geräusche. Einige Male wehte ein gedämpftes Stöhnen zu ihnen heran. Wieder erhellte ein Leuchten die Mauerkronen, zitterte, strömte mit gelblichem Schimmern abwärts wie ein kurzer Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. »Gehen wir«, sagten beide gleichzeitig.
    Ohne diese Signale wären sie wohl kaum vor Tagesanbruch zurückgekehrt. So aber konnten sie, gelenkt von dem Schein, der noch zweimal wie eine Feuersbrunst das Dunkel der steinernen Hohlwege erhellte, die Marschrichtung einhalten. Unterwegs begegneten sie einigen Flüchtenden, die, vom Licht der Taschenlampe erschreckt, rasch

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