Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
sie anderes als ein Kind – und er ließ sie erleichtert dem Sterben entgegensehen. Und als sie einige Tage später friedvoll entschlief, sagte sie zu mir, sie wolle um dessentwillen, was ich für den Frieden ihrer Seele getan habe, mit dieser Seele über mich wachen; sie wolle, sofern es möglich sei, in den wachen Stunden der Nacht mir sichtbarlich erscheinen. Wenn aber dies außerhalb der Macht der Seelen im Paradiese läge, so wolle sie mir ihr Gegenwärtigsein wenigstens durch allerlei Zeichen kundtun. Sie werde mit den Abendwinden mich umkosen und die Luft um mich her mit dem Duft der himmlischen Weihrauchschalen erfüllen.
    Mit diesen Worten auf den Lippen gab sie ihr junges, reines Leben auf, und mit ihr endete die erste Epoche meines eigenen Lebens.
    Bis hierher habe ich wahrheitsgetreu berichtet. Doch wenn mein Denken auf dem Wege der Vergangenheit die Grenze, die der Tod meiner Geliebten gezogen, überschreitet und die zweite Periode meines Lebens eintritt, dann sammeln sich Schatten um mein Hirn, und ich fühle, daß ich an meinem gesunden Gedächtnis zweifeln muß. Doch ich will fortfahren.
    Die Jahre schleppten sich träge dahin, und immer noch wohnte ich im Tale des vielfarbigen Grases. Aber wiederum hatte eine Veränderung alle Dinge befallen. Die sternförmigen Blüten krochen zurück in die Stämme der Bäume und kamen nie wieder zum Vorschein. Das tiefe Grün des Rasenteppichs verblaßte, und die rubinroten Asphodelen welkten hin, eine nach der andern. Und wo sie gestanden brachen, zehn auf einmal, dunkle, blauäugige Veilchen auf, und ihre Augen standen immer voll Tau und blickten kummervoll.
    Und Leben entschwand von unsern alten Pfaden. Denn der hohe, schlanke Flamingo entfaltete nie mehr sein scharlachrotes Gefieder, trauernd flog er aus unserm Tale fort den Bergen zu und mit ihm zogen alle heiteren Vögel, die ihn begleitet hatten. Die Gold- und Silberfische schwammen davon durch die Schlucht, die an der einen Seite unser Reich begrenzte und zierten nie wieder den lieblichen Fluß. Und die sanfte Melodie, die erhebender gewesen war als der Sang aus des Äolus Harfe und süßer als alles – ausgenommen Eleonoras Stimme, sie sank wieder zu leisem Murmeln herab und wurde stiller und stiller bis sie erstarb und der Fluß wieder in seinem einstigen feierlich düsteren Schweigen dahinfloß.
    Und dann – zuletzt – hob sich die mächtige Wolke von den Gipfeln der Berge, die wieder in ihr nebelhaftes Grau zurücktauchten, und schwamm gemächlich davon, den fernen Regionen des Abendsternes zu, und mit ihr verschwand das strahlende Gold und alle die glänzende Pracht, mit der sie das Tal des vielfarbigen Grases überschüttet hatte.
    Jedoch was Eleonora versprochen hatte, erfüllte sich. Denn ich hörte um mich das Schwingen aus himmlischen Weihrauchschalen, und Ströme überirdischer Düfte durchfluteten immer und immer das Tal. Und in einsamen Stunden, wenn mein Herz in heftigem Pulsschlag erbebte, umschmeichelten sanfte Winde mit süßem Seufzen meine Stirn. Die dunklen Nächte füllte oft ein schwaches Flüstern, und einmal – oh, einmal nur! – weckte mich aus einem todähnlichen Schlafe der Kuß geisterhafter Lippen, die meinen Mund berührten. Aber all dies vermochte nicht die Leere meines Herzens auszufüllen, und grenzenlos wuchs sein Verlangen nach jener Liebe, von der es vordem so übervoll gewesen war. Und endlich kam es soweit, daß mir das Tal des vielfarbigen Grases, durch das mich die Erinnerungen hetzten, zur Qual wurde, und ich vertauschte es für immer gegen die Eitelkeiten und das friedelose Glück der Welt.
    Ich fand mich in einer fremden Stadt, in der alle Dinge nur dazu dienten, die Erinnerung an die süßen Träume, die ich so lange Jahre im Tal des vielfarbigen Grases träumte, aus meinem Gedächtnis auszulöschen.
    Ein äußerst prächtiges Hoflager mit Pomp und Festen, betäubendes Waffengeklirr und strahlende Lieblichkeit von Frauen verwirrte und berauschte mein Hirn. Doch bis jetzt war meine Seele ihrem Schwur treu geblieben, und immer noch verkündete mir Eleonora in den stillen Stunden der Nacht ihre Gegenwart. Plötzlich aber hörten diese Anzeichen auf, und die Welt wurde schwarz vor meinen Augen, und ich stand in atemlosem Schreck vor dem glühenden Gedanken – der grauenhaften Versuchung, die mich befallen hatte.
    Denn an den fröhlichen Hof des Königs, dem ich diente, kam aus irgendeinem fernen, fernen, unbekannten Lande ein Mädchen, von dessen Schönheit

Weitere Kostenlose Bücher