Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Statue hat Leben bekommen! Die Weiße des marmornen Antlitzes, der schwellende marmorne Busen, das edle Weiß des marmornen Fußes wurden plötzlich von tiefer Röte überflutet; und ein leichter Schauer schüttelt ihren zarten Körper, wie die sanfte Luft Neapels die silbernen Lilien im Grase.
Weshalb errötete die Dame? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, es sei denn die, daß sie in Hast und Schrecken ihres mütterlichen Herzens, als sie ihr stilles Gemach verließ, vergessen hatte, die kleinen Füße in Schuhe zu verbergen, und ganz vergessen hatte, über ihre venezianischen Schultern die Hülle zu werfen, die ihnen gebührt. Was sonst hätte sie veranlassen können, so zu erröten? – Was war der Grund für die wilde Klage in diesen Augen? Für den Aufruhr in diesem jagenden Busen? Für den krampfhaften Druck dieser zitternden Hand? Dieser Hand, die, als Mentoni in den Palast zurückkehrte, wie zufällig auf die Hand des Fremden sank? Welcher Grund mochte vorliegen für den leisen, den so sehr leisen Ton jener unverständlichen Worte, die von der Dame hastig geflüstert wurden, ehe sie von ihm ging? »Du hast gesiegt«, sagte sie – oder das Murmeln des Wassers müßte mich getäuscht haben – »du hast gesiegt – eine Stunde nach Sonnenaufgang – werden wir uns treffen – so laß es sein!«
Der Tumult hatte geendet, die Lichter im Palast waren erloschen, und der Fremde, den ich jetzt wiedererkannte, stand allein auf den Fliesen. Er erbebte in unerklärlicher Aufregung, und sein Auge blickte suchend nach einer Gondel umher. Es schien mir das wenigste, daß ich ihm einen Platz in der meinigen anbot. Er nahm dankend an. Wir versahen uns mit einem neuen Ruder und fuhren seiner Wohnung zu, während er seine Selbstbeherrschung schnell zurückgewann und in herzlichem Tone unserer früheren flüchtigen Bekanntschaft gedachte.
Es gibt Menschen, von denen ich gern ausführlich spreche. Der Fremde – laßt mich ihn bei diesem Namen nennen, ihn, der immer aller Welt ein Fremder war –, er ist für mich ein solcher Mensch. An Körpergröße stand er eher unter als über dem Mittelmaß, obgleich es Augenblicke der Leidenschaft gab, in denen seine Gestalt hoch aufwuchs und meine Feststellung Lügen strafte. Die schlanke Ebenmäßigkeit seines Körpers deutete mehr auf jenes schnell bereite Handeln, wie er es an der Seufzerbrücke bewiesen, als auf seine herkulische Kraft, von der man wußte, daß er sie bei gefährlicheren Gelegenheiten gezeigt hatte. Er hatte den schönen Mund und das Kinn eines Gottes – seltsam feurige, tiefe, feuchte Augen, deren Glanz von reinstem Haselnußbraun bis zu strahlendem Schwarz schwankte – und eine Fülle schwarzen Lockenhaares, aus der eine ungewöhnlich breite Stirn wie lauter Licht und Elfenbein hervorstrahlte. Seine Gesichtszüge waren so klassisch ebenmäßig, wie ich sie nur allein im Marmorantlitz des Kaisers Commodus gefunden habe. Dennoch gehörte sein Gesicht zu jenen, die jeder einmal im Leben gesehen hat, doch nie mehr wiederfindet. Es hatte keinen besonderen – keinen herrschenden Ausdruck, der im Gedächtnis haften bleiben konnte; ein Gesicht, das man sah und lieben mußte, doch sofort vergessen hatte – vergessen, mit dem unbestimmten und rastlosen Verlangen, sich seiner wieder zu erinnern. Wohl warf die Seele jeder heftigen Leidenschaft ihr Spiegelbild auf dieses Antlitz – doch gleich dem Spiegel, der nichts festzuhalten weiß, so wies auch dieses keine Spur der Leidenschaft mehr auf, sobald die Leidenschaft verflogen war.
Als ich ihn in der Nacht unseres Abenteuers verließ, bat er mich dringend, ihn sehr früh am andern Morgen zu besuchen. Kurz nach Sonnenaufgang betrat ich also seinen Palazzo, einen der hohen düsteren, aber phantastisch prunkvollen Bauten, wie sie sich in der Nachbarschaft des Rialto zu seiten des Großen Kanals auftürmen. Man wies mich eine breite gewundene Mosaiktreppe hinauf und in ein Gemach, dessen unvergleichliche Pracht wie ein Meer von Glanz durch die geöffnete Tür herausströmte und mich blendete und schwindlig machte.
Ich wußte, daß mein Bekannter wohlhabend war. Man hatte von seinen Reichtümern in Ausdrücken gesprochen, die ich als lächerliche Übertreibungen zurückgewiesen hatte. Als ich aber um mich blickte, schien es mir ganz unmöglich, daß die Schätze irgendeines Menschen in Europa hingereicht haben könnten, um diese fürstliche Pracht zu entfalten, die ringsumher glühte und flammte.
Obwohl, wie ich
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