Edith Wharton
noch am nächsten kamen, gab es nichts, was dem grausamen Elend der Leute
vom Berg gleichkam.
Als Charity so dalag, halb betäubt
von ihren schmerzlichen Erlebnissen, versuchte sie vergebens, sich in das Leben
um sie herum hineinzuversetzen. Aber sie konnte nicht einmal herausfinden, wie
diese Leute mit ihr oder mit ihrer toten Mutter verwandt waren; sie schienen
in einer Art passiver Promiskuität zusammenzuhausen, in der ihr gemeinsames
Elend das stärkste Bindeglied war. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr
Leben ausgesehen hätte, wenn sie auf dem Berg aufgewachsen wäre: wenn sie in
Lumpen herumgestreunt wäre, auf dem Boden geschlafen hätte, an ihre Mutter
geschmiegt, so wie sich die blassen Kinder an die alte Mrs. Hyatt kuschelten,
und wenn sie ein so hitziges, verdrehtes Ding geworden wäre, wie das Mädchen,
das sich mit so merkwürdigen Worten an sie gewandt hatte. Die geheime
Verwandtschaft, die sie diesem Mädchen gegenüber verspürt hatte, erschreckte
sie ebenso wie das Licht, das dadurch
auf ihre eigene Herkunft fiel. Dann erinnerte sie sich, was Mr. Royall gesagt
hatte, als er Lucius Harney ihre Geschichte erzählte: »Ja, es gab eine Mutter;
aber sie war froh, das Kind loszuwerden. Sie hätte es jedem gegeben ...«
Aber konnte man letztlich das ihrer
Mutter zum Vorwurf machen? Seit jenem Tag hatte Charity immer gemeint, ihre
Mutter sei ohne jedes menschliche Gefühl; nun kam sie ihr nur mitleiderregend
vor. Welche Mutter würde ihr Kind nicht vor einem solchen Leben bewahren
wollen? Charity dachte an die Zukunft ihres eigenen Kindes, und Tränen traten
ihr in die schmerzenden Augen und rannen über ihr Gesicht. Wäre sie nicht so
erschöpft gewesen, nicht so belastet mit seinem Gewicht, wäre sie auf der
Stelle aufgesprungen und geflohen ...
Langsam verstrichen die schlimmen
Stunden der Nacht, bis endlich der Himmel blasser wurde und das Morgengrauen
einen kalten blauen Schein ins Zimmer warf. Charity lag in ihrer Ecke und
starrte auf den schmutzigen Fußboden, die Wäscheleine mit den zerfallenden
Lumpen, die alte Frau, die zusammengekauert neben dem kalten Ofen lag, und das
Licht, das sich allmählich über die winterliche Welt ausbreitete und einen
neuen Tag mit sich brachte, an dem sie leben, Entscheidungen treffen, handeln,
sich einen Platz unter diesen Menschen schaffen mußte —
oder zu dem Leben zurückkehren, daß sie hinter sich gelassen hatte. Eine tödliche Mattigkeit lag auf ihr. Es
gab Augenblicke, da wünschte sie sich nichts weiter, als unbeachtet dort liegenbleiben zu können; dann wieder
sträubte sich alles in ihr bei dem Gedanken, ein Mitglied dieser elenden Horde
zu werden, der sie entstammte, und es schien, als würde sie die Kraft finden,
jede Strecke zurückzulegen und jede Bürde zu tragen, die das Leben ihr
auferlegen mochte, um ihr Kind vor einem solchen Schicksal zu bewahren.
Hin und wieder kam ihr vage
Nettleton in den Sinn. Sie sagte sich, sie werde einen ruhigen Ort finden, wo
sie ihr Kind bekommen und bei anständigen Leuten in Pflege geben könne; dann
würde sie sich wie Julia Hawes eine Arbeit suchen und den Lebensunterhalt für
sich und das Kind verdienen. Sie wußte, solche Mädchen verdienten manchmal
genug, daß ihre Kinder gut versorgt wurden; und jede andere Überlegung schwand
bei der Vorstellung ihres sauberen, gekämmten rosigen Kindes, das irgendwo
untergebracht war, wo sie hereinschauen und es küssen und ihm hübsche Sachen
zum Anziehen bringen konnte. Alles, alles war besser, als in dieser Brutstätte
des Elends hier auf dem Berg noch ein Leben in die Welt zu setzen.
Die alte Frau und die Kinder
schliefen noch, als Charity sich von ihrer Matratze erhob. Ihr Körper war
steif vor Kälte und Erschöpfung, und sie bewegte sich langsam, damit ihre
schweren Schritte sie nicht aufweckten. Sie war schwach vor Hunger, und ihre
Segeltuchtasche war leer; aber auf dem Tisch sah sie einen halben Laib
altbackenes Brot. Gewiß war er für das Frühstück von Mrs. Hyatt und den Kindern
bestimmt, aber das kümmerte Charity nicht; sie hatte ihr eigenes Kind, an das sie denken mußte. Sie brach ein
Stück von dem Brot ab und aß es gierig; dann fiel ihr Blick auf die mageren Gesichter
der schlafenden Kinder, und reuevoll suchte sie in ihrer Tasche nach etwas,
womit sie für das bezahlen könnte, was sie sich genommen hatte. Sie fand eine
der hübschen Blusen, die Ally für sie genäht hatte und die mit einem blauen
Band eingefaßt war. Sie war eines der
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