Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
schlage Henk mit der Faust auf die Nase. Ich glaube, ich bin viel geschockter als er. Besonders, als seine Nase auch noch zu bluten beginnt. Hinter mir ertönt spontaner Applaus, wahrscheinlich von Arthur und Anselm.
Ich stehe immer noch unter Schock, als ich ins Büro der Direktorin gebracht werde. Ich habe keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, bis meine Eltern gekommen sind. Mein Vater hat eine Orchesterprobe ausfallen lassen, aber Mamas Galerie ist montags sowieso geschlossen, sie war zu Hause und hat Papierkram erledigt. Komisch, dass ich mehr über meine Eltern nachgedacht habe als darüber, was wohl mit mir passiert.
Die Direktorin spricht lange mit den beiden, aber ich höre gar nicht richtig zu. Ich sehe nur vor mir, wie ich Henk eins auf die Nase gebe und ihm das Blut über den Mund läuft. Irgendwann kommt dann Henk rein, jemand sagt mir, ich muss mich entschuldigen, was ich auch mache, und dann entschuldigt sich Henk bei mir, und wir fahren alle nach Hause.
Ich bekomme zum ersten Mal in meinem Leben Hausarrest und Internetverbot, und mein Handy nehmen sie mir auch weg. Sonst wird bei uns immer alles ausdiskutiert. Diesmal nicht.
»Das Einzige«, sagt Mama, »was mir dazu einfällt, ist: Du bist schon strafmündig.«
»Und außerdem hast du noch nie so etwas getan. Also, noch nie!«, sagt Papa. Ihn macht das Ganze noch viel mehr fertig als Mama. Mama scheint eigentlich sogar ganz cool zu sein. »Von wem er das nur hat!«, sagt Papa. »Wir haben ihn doch immer so erzogen, dass er Konflikte vernünftig löst.«
»Ganz ehrlich, ich hätte diesem Henk auch eine reingehauen«, sagt Mama. Aha! »Aber natürlich ist das keine Lösung«, schiebt sie schnell hinterher. »Edvard, du hast jetzt eine Woche Zeit, nachzudenken und mit uns darüber zu reden, wie man sich angemessen zur Wehr setzt.«
In der Schule hatten wir dann eine Extrastunde zum Thema Mobbing. Henk ist die ganze Woche zu Hause geblieben, obwohl die meisten Sachen, die gesagt wurden, ziemlich direkt an seine Adresse gingen, aber na gut. Seine Kumpels lassen mich in Ruhe, sie machen einen Bogen um mich, und Karli hängt nun immer mit Arthur, Anselm und mir rum. Sogar Piesel hat schon gefragt, ob wir nicht mal mit ihm abhängen wollen.
Aber eins hat sich nicht geändert: Constanze. Wenn siemich sieht, rollt sie immer nur mit den Augen und dreht mir den Rücken zu.
Dafür ist Jasons Facebook-Gedenkseite mittlerweile bei dreitausend »Gefällt mir«-Klicks. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich ignoriere das Ganze am besten. Wenn auf der Seite nichts passiert, legt sich das Interesse von selbst.
Seit heute Abend darf ich also wieder ins Internet, aber nur für eine Stunde pro Tag.
Und jetzt mache ich das, was ich die ganze Woche über gemacht haben: mir alte Star Trek- DVD s reinziehen. Die Next Generation-Staffel kann ich langsam mitsprechen.
Samstag, 3.9., 20:12 Uhr
Jasons Gedenkseite hat fast zehntausend Fans.
Es gibt Hunderte von Einträgen mit endlos vielen Kommentaren. Die meisten regen sich darüber auf, dass Jason Opfer eines so tragischen Kunstfehlers geworden ist, und empfehlen Rechtsanwälte, an die sich die Familie wenden kann.
Viele wollen wissen, in welchem Krankenhaus er gestorben ist, und fordern Jasons Familie auf, die Namen der beteiligten Ärzte zu veröffentlichen.
Der Rest will wissen, wann und wo die Trauerfeier ist und ob sie Blumen mitbringen oder lieber Geld an eine wohltätige Organisation spenden sollen.
Daraus entstand die Idee, eine Stiftung in Jasons Namen zu gründen. Gerade wird darüber diskutiert, wem diese Stiftung zugutekommen soll. Eine Stiftung?
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal froh sein könnte, für ein paar Wochen am Tag nur eine Stunde am Computer sein zu dürfen.
Sonntag, 4.9., 19:30 Uhr
Heute Nachmittag ein bisschen mit Arthur, Anselm und Karli abgehangen. Wir sitzen im Garten rum und lästern über Wesley Crusher, als meine Mutter mit Piesel im Schlepptau ankommt.
»Hier ist noch ein Freund von euch«, sagt sie.
»Das ist kein Freund von uns«, sage ich.
»Der hat sich nur zu uns in die Klasse verirrt«, sagt Arthur.
Mama stemmt die Hände in die Hüften. »Edvard, nur weil du so schlecht von diesem bemitleidenswerten Henk behandelt wurdest, musst du dieses Verhalten noch lange nicht an andere weitergeben. Es ist verständlich, dass du das tust, viele Mobbingopfer reagieren so. Aber ich weiß, dass du stark und selbstbewusst genug bist, um nicht dieselben Fehler
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