Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
frage ich.
»Wir wollten dich nicht unter Druck setzen. Niemand muss überall eine 1 oder 2 haben«, sagt Mama. »Du sollst ja nicht in dem Glauben aufwachsen, ein Mensch sei nur etwas wert, wenn die Leistung stimmt.«
»Äh – hallo? Ich will später mal Astrophysiker werden und das Beamen erfinden! Ich glaube, da sind gute Noten ganz hilfreich, sonst kann ich das vergessen!«
»Kümmern sich nicht Teilchenphysiker ums Beamen?«, sagt Papa.
»In deinem Alter wollte ich Krankenschwester werden«, sagt Mama. »So was ändert sich doch dauernd.«
»Du wolltest mal Krankenschwester werden?«, fragt Papa.
»Ja, das war, bevor mir klar wurde, dass das auch nur einer dieser typischen unterbezahlten Frauenberufe ist und ich damit ein System unterstützen würde, das abgeschafft gehört.«
Ich verstehe mal wieder kein Wort und verziehe mich in mein Zimmer.
Beim Checken von Jasons Gedenkseite sehe ich, dass mittlerweile über dreißigtausend Leute »Gefällt mir« geklickt haben. Ich logge mich sofort wieder aus.
Sonntag, 11.9., 19:52 Uhr
Habe so viel zu tun, komme gar nicht mehr zum Schreiben. Es ist super. Tannenbaum nimmt mich mit in die Sternwarte, wir gehen in Naturkundemuseen, machen unsere eigenen Versuche bei ihm zu Hause. Manchmal kommen Karli und Anselm mit, obwohl sie überall gute Noten haben.
Nur Arthur ist irgendwie mies drauf. Ihn interessiert das alles null, und er fühlt sich vernachlässigt. Deshalb haben wir heute einen Star Trek-Filmnachmittag veranstaltet – mit Verkleiden und allem. Ich habe eine ganz coole Uniform für den ersten Offizier, Arthur kam als Klingone (was aber nicht wirklich überzeugend war, weil er glaubt, dass eine Langhaarperücke und ein Heavy Metal-T-Shirt mit einer zu engen Lederhose das richtige Outfit sind), Anselm war der Android Data, und Karli eine Vulkanierin. Piesel kam noch reingeschneit und hatte ein Laserschwert dabei. Hat ein bisschen gedauert, bis er kapiert hatte, dass er im falschen Film war. Nachdem wir drei Filme ohne Pause geschaut hatten, war Arthur wieder besser drauf.
Freue mich total auf Dienstag, da schreiben wir die erste Mathearbeit in diesem Schuljahr. Muss aufhören, ich will noch ein paar Übungen zum Thema »Binomische Formeln« downloaden.
(Edit: Constanze hat mich heute in der Pause gefragt, ob Karli meine Freundin ist. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt, und Constanze hat ganz komisch geschaut. Ich glaube, sie ist ein bisschen eifersüchtig.)
Donnerstag, 15.9., 16:21 Uhr
Meine erste 1 in Mathe!!! Mit Tannenbaum als Nachhilfelehrer mach ich mein Abi mit einem 1,0-Schnitt!!! Und dann bekomme ich ein Stipendium und gehe in die USA und studiere in Harvard, und dort habe ich ein neues Leben ganz ohne Henk, und vielleicht verliebt sich Constanze in mich, weil ich dann erfolgreich und cool bin!!!
Ich bin gerettet!!!
Samstag, 17.9., 22:56 Uhr
Ich bin am Arsch. Tannenbaum zieht weg! Mein Leben ist vorbei!
Okay. Der Reihe nach. Donnerstag habe ich Tannenbaum meine Mathearbeit gezeigt, und da war er schon ein bisschen komisch. Klar, er hat sich gefreut und das alles, aber er hat auch so seltsame Sachen gesagt wie: »Denke immer dran, dass du das alles ganz alleine geschafft hast.« Und: »Du weißt, dass du das auch ohne mich hinbekommst, Edvard, oder?« Da dachte ich noch, das sind irgendwelche Motivationssprüche, wie sie meine Eltern immer loslassen. Aber heute bin ich zu ihm rüber, weil wir ein paar Versuche mit elektrischer Spannung machen wollten. Ich darf mittlerweile durch die Küchentür ins Haus und muss nicht mehr klingeln. Also gehe ich in die Küche, tätschle Pudel ein bisschen, und vorne im Flur höre ich, wie Tannenbaum ziemlich wütend ins Telefon brüllt. Als er mich sieht, hört er auf zu brüllen, schaut den Hörer in seiner Hand an und knallt ihn auf die Gabel.
»Tut mir leid, Edvard«, sagt er. »Wie es aussieht, muss ich hier weg.«
Ich kapiere es nicht gleich. »Wie, weg? Müssen Sie jemanden besuchen? Oder auf so eine Art Dienstreise?«
Er sagt mir, dass er aus seinem Haus rausmuss. Es gehört ihm nämlich gar nicht.
»Aber es ist doch Ihr Haus?«, sage ich.
»Es gehört mir nicht. Ich zahle Miete.«
»An wen? Ihr Großvater hat es doch gebaut! Es gehört doch Ihrer Familie!«
Ich frage und frage, bis ich endlich alles weiß:
Die Geschichte von Exprofessor Daniel Tannenbaum
Also. Tannenbaum ist wirklich in diesem Haus geboren. Anfang der Fünfzigerjahre. Da waren seine Eltern gerade wieder in dieses Haus
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