Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
eingezogen, und sie waren total glücklich darüber. Tannenbaums Großeltern waren nämlich Juden und mussten natürlich abhauen, und als sie nach dem Krieg mit ihrem Sohn (Tannenbaums Papa) zurückkehrten, setzten sie alles dran, um ihr Haus wiederzubekommen, das man ihnen abgenommen hatte. Tannenbaum ist in den Siebzigerjahren nach Amerika zum Studieren gegangen und eine ganze Weile dort geblieben, bestimmt fünfundzwanzig Jahre. Da schrieb er ein paar Bücher, unter anderem »Sterne«, das ich toll finde und das heute immer noch ein Standardwerk ist, wie er sagt. Es lief echt gut für ihn, alles prima. Dann sind seine Eltern gestorben, ganz tragisch, erst war die Mutter schwer krank, dann hatte der Vater kurz drauf einen Unfall. Tannenbaum hat das alles total mitgenommen. In Amerika lief es auch gerade nicht gut, seine Frau ließ sich von ihm scheiden, und er hatte Riesenärger mit einem Kollegen, der irgendwie von ihm abgeschrieben und einen Aufsatz veröffentlicht hat, der dann total der Renner in der Fachwelt wurde. Tannenbaum musste vor Gericht gehen und den Arsch verklagen und alles Mögliche, aber der Richter sagte dann, es wäre absolut nicht sicher, wer hier was zuerst geschrieben oder entdeckt oder sonst was hätte, und nach so viel Scheiße hatte Tannenbaum die Schnauze voll, setzte sich in den nächsten Flieger und zog wieder in sein Elternhaus ein, obwohl von seiner Familie niemand mehr da war. Das war ungefähr vor fünfzehn Jahren. Durch die Scheidung und den Prozess und das alles hatte er kein Geld mehr. Aber er hatte auch keine Lust, weiter als Professor zu arbeiten, weil ihm dieser ganzeWissenschaftssumpf zu blöd geworden war. Er verkaufte das Haus an einen alten Mann, den er total nett fand und der seine Lage absolut gut verstand. Der Mann ließ ihn für eine günstige Miete in dem Haus wohnen und versprach ihm, dass er lebenslang dort bleiben kann.
Tannenbaum fand das eine prima Lösung. Er konnte da viel lesen, immer noch Sterne gucken und hobbymäßig forschen und auf dem neuesten Stand bleiben. Zum Geldverdienen machte er Führungen in einer Sternwarte und arbeitete an ein paar Schulbüchern mit und unterrichtete an der Volkshochschule, aber »unter falschem Namen«, wie er mir sagte.
Na, und vor ein paar Wochen ist der nette alte Herr, der ihm das Haus abgekauft hat, gestorben. Und seine Tochter behauptet, nichts davon zu wissen, dass ihr Vater Tannenbaum versprochen hat, dass er sein Leben lang da wohnen bleiben kann. Sie faselt was von Eigenbedarf und hat ihm gekündigt, aber Tannenbaum will auf keinen Fall aus dem Haus raus. Nur hat er leider nichts in der Hand, weil er sich auf das Wort von dem alten Mann verlassen hat. Vielleicht gab es auch mal was Schriftliches, sagt Tannenbaum, aber er hat keine Ahnung, wo der Wisch jetzt nach so vielen Jahren noch sein soll, wahrscheinlich irgendwann mal mit anderen Papieren weggeschmissen.
Jedenfalls: Er hätte Ende August schon rausgemusst. Jetzt hat er noch bis Monatsende, das ist Freitag in einer Woche, eine Gnadenfrist bekommen.
»Aber … Sie können sich doch eine Wohnung in der Nähe nehmen?«, sage ich.
Tannenbaum schüttelt den Kopf. »Nein, Edvard, das ist mein Zuhause. Wenn ich aber hier nicht mehr leben darf, dann würde ich ganz weit weggehen, weil es mir sonst vielzu wehtun würde, jeden Tag mein Haus zu sehen. Und wer weiß, vielleicht lässt es diese Frau sogar abreißen oder macht irgendwas Schreckliches damit.«
Ich schlucke. »Darf die das?«
»Es gehört ihr.«
»Aber Sie können jetzt nicht weggehen!«, sage ich. »Was … was wird denn dann aus mir?«
»Edvard, du hast in kürzester Zeit gemerkt, dass du das alles kannst. Du brauchst mich doch gar nicht. Außerdem gibt es ganz viele andere Nachhilfelehrer, die das vielleicht sogar noch besser machen als ich.«
Ich sehe ihn an und schüttele den Kopf. »Aber ich mag Sie«, sage ich und bin selbst ganz erschrocken, dass ich das gesagt habe. »Bei Ihnen fühle ich mich nicht so falsch wie bei den meisten anderen Leuten.«
Tannenbaum reibt sich das Gesicht mit den Händen und seufzt. »Ich würde auch viel lieber hierbleiben, Edvard, aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.«
Sonntag, 18.9., 12:12 Uhr
Mein Leben ist vorbei. Gerade, als ich dachte, es könnte irgendwie bergauf gehen. Ich bin am Ende.
Und Constanze mag mich auch nicht. Ich habe auf ihr Facebook-Profil geschaut, da schreibt sie die ganze Zeit nur über Jason. Und ich habe doch tatsächlich für
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