Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
und auch, weil es ja mehr als nur ein Piesel ist. Sie sind alle schon siebzehn und haben lustige Haare und Lederjacken und kaputte Jeans, und na ja, sie sehen eben wie Punks aus. Piesels Bruder Ratte hat auch eine Ratte dabei, die ist aber ganz zahm und hört sogar drauf, wenn man sie ruft. Hat Piesel jedenfalls erzählt.
»Warum macht ihr denn blau?«, fragt Herr Tannenbaum.
»Mathe«, sagt Ratte und verdreht die Augen. »Können wir hier drin rauchen?«
»Balkon«, sagt Tannenbaum und beschreibt den Weg. Pudel geht ihnen nach.
Eine halbe Stunde später sind wir mit der Nachhilfe fertig. (Eigentlich war der letzte Teil gar keine Nachhilfe, wir haben schon den ganzen Morgen Chemie und Mathe und Physik gemacht, und die letzte Stunde war ein bisschen Astronomie, nur für mich, nicht für die Schule.) Ich gehe auf die gegenüberliegende Straßenseite und mache ein Foto von Tannenbaums Haus. Vielleicht darf ich doch mal einen Artikel für die Schülerzeitung schreiben, obwohl Henks Cousin da mitmacht. Dann hätte ich gleich ein Thema und sogar ein Bild. Das Foto wird sogar richtig gut, alle Bettlaken sind zu sehen, und Ratte und Co. machen sich prima auf dem Balkon. Als sie sehen, dassich fotografiere, fangen sie gleich an zu posen. Ich mache zwanzig Bilder davon. Auf ein paar ist zu sehen, wie sie Pudel über das Geländer halten, so wie Michael Jackson sein Kind, als es noch ein Baby war (und er noch gelebt hat, logisch).
Frau Hermsdorf, die in dem Haus wohnt, vor dem ich gerade stehe, kommt an den Gartenzaun und sagt: »Edvard, sag mal, was ist denn bei dem komischen Mann da drüben los? Ist er überfallen worden?«
Ich sage: »Nee, die helfen nur mit, das Haus zu besetzen, damit er nicht wegziehen muss.«
»Aber warum muss er denn wegziehen?«, fragt die neugierige alte Wachtel. (Papa nennt sie immer so.)
»Fragen Sie ihn doch mal«, sage ich, weil ich keine Lust auf sie habe.
»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, diese Vandalen da!«, ruft sie empört. Ratte und die beiden anderen haben sie jetzt nämlich entdeckt und pöbeln rum. Wir hören nicht genau, was sie rufen, irgendwas mit »Omma go home!«, und Frau Hermsdorf reicht das schon. Außerdem pfeift einer die ganze Zeit, und das findet sie gar nicht lustig.
»Also, ich rufe jetzt die Polizei!«, schreit sie mit geballten Fäusten. »Jawohl, die Polizei!« Dann watschelt sie zurück ins Haus. Ratte und seine Freunde biegen sich vor Lachen und brüllen: »Die Bullen kommen! Die Bullen kommen!«
Ich gehe zu Tannenbaum, der gerade Mittagessen kocht. Er macht einen riesigen Topf Linsensuppe und sagt: »Wir müssen nachher einkaufen gehen, ich bin gar nicht darauf eingestellt, so viel Besuch zu haben.« Er strahlt, als er das sagt, und macht eigentlich einen ganz glücklichen Eindruck. Und ich dachte immer, er ist so einEigenbrötler, der mit keinem was zu tun haben will. Das sage ich ihm auch.
»Weißt du, Edvard, manchmal hat man selbst keine Ahnung, was einem guttut und was nicht«, sagt er nur. Dann ruft er nach Ratte und bittet ihn, im nächsten Supermarkt einzukaufen: Würstchen für zwanzig Leute. »Wer weiß, wer noch alles kommt«, sagt Tannenbaum fröhlich. Ratte will gerade verschwinden, als er ihn zurückruft und schnell eine ganz lange Liste mit Sachen aufschreibt.
»So viel?«, fragt Ratte.
Tannenbaum zuckt mit den Schultern. »Ihr bleibt doch noch eine Weile?«
»Öh, klar, wenn wir dürfen …« Er klingt sogar ein bisschen schüchtern.
»Nimm ruhig deine Kumpels mit, Edvard und ich, wir schaffen es schon, das Haus zu besetzen.«
Tannenbaum gibt ihm Geld, und Ratte zischt mit seinen Freunden ab.
Ich helfe beim Tischdecken. Gleich kommen Anselm, Arthur und Karli. Und Piesel.
Dienstag, 20.9., 16:11 Uhr
Die neugierige alte Wachtel, also Frau Hermsdorf, hat offenbar wirklich die Polizei gerufen. Ein paarmal ist schon ein Streifenwagen am Haus vorbeigefahren, aber niemand ist zu uns reingekommen.
Dienstag, 20.9., 18:42 Uhr
Ich muss etwas tun. Die Facebook-Seite von Jason hat über Nacht noch mal doppelt so viele Fans bekommen. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Über einhundertfünfzigtausend Leute haben »Gefällt mir« geklickt und regen sich total auf, dass ein netter Kerl wie Jason (haha, netter Kerl, hallo?!), der ja sein Leben noch vor sich hatte (welches Leben, ey?), einem so schlimmen Kunstfehler zum Opfer gefallen ist. Sie wollen alle weiterhin wissen, welches Krankenhaus das verbockt hat und wo Jason
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