Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
meint dann aber, es sei in Ordnung, sie hätte mit Frau Müller-Böhne über alles gesprochen und ihr die Lage erklärt. Und Frau Müller-Böhne wäre von meinem »sozialen Engagement« sehr beeindruckt.
»Außerdem bekommt der Junge ja Heimunterricht«, sagt Tannenbaum zu ihr. »Ich unterrichte ihn in allen Fächern.« Und nuschelt so leise, dass nur ich es hören kann: »Na ja, fast.«
Frau Müller-Böhne macht große Augen. »Und wie schlägt er sich so? Er schwächelt ja etwas in den Naturwissenschaften.«
Tannenbaum lächelt milde. »Physik ist sein Lieblingsfach. Und in allen anderen Fächern kann er locker mithalten, glauben Sie mir.«
»Er ist der Tannenbaum«, raunt Mama Frau Müller-Böhne zu.
»Welcher Tannenbaum?«, fragt Frau Müller-Böhne.
Mama greift sich eins der Bücher, die Tannenbaum geschrieben hat (sie stehen in einem Extraregal) und hält es meiner Lehrerin unter die Nase. »Lesen Sie das hier. ›Über den Autor‹.«
»Oh …«, sagt Frau Müller-Böhne. »Oh …« Sie grinst Tannenbaum nervös an. »Herr Professor Doktor Tannenbaum, wie schön, Sie kennenzulernen …« Sie piepst wie die Mädchen in der fünften Klasse und wird ganz rot. Sie wird anders rot als Anselm. Anselm bekommt nur so dunkelrote Flecken. Frau Müller-Böhne wird komplett rot, sogar am Hals. Dafür nicht ganz so dunkelrot wie Anselm.
Tannenbaum winkt ab. »Hauptsache, dem Jungen macht es Spaß.«
Frau Müller-Böhne lächelt mich an. »Edvard, wenn das so ist, dann weiß ich dich in guten Händen, und ich denke, wir können ein Auge zudrücken, dass deine Mutter … sagen wir mal … ein bisschen geschwindelt hat! Aber sagen Sie, Frau de Vigny, wie soll es denn hier weitergehen? Ich meine, bei allem Verständnis für diese wunderbare Aktion, irgendwann muss Edvard aber wieder in die Schule … oder?« Sie schaut unsicher von Mama zu Tannenbaum und wieder zurück.
Tannenbaum sagt: »Es muss sehr bald eine Entscheidung fallen. Ich habe heute mit meiner Vermieterin telefoniert, und sie meinte, entweder ich ziehe freiwillig bis Ende des Monats aus, oder sie lässt mich raustragen. Ich sagte: ›Gut, dann tragen Sie mich eben raus.‹ Und sie meinte: ›Eine Alternative gibt es noch, Sie können mir die Bruchbude auch abkaufen.‹«
Mama und Frau Müller-Böhne strahlen. Sogar Papa, der sich aus allem rausgehalten und stur sein Abendessen geschaufelt hat (heute: Spaghetti Bolognese mit viel Parmesan), schaut auf und macht ein ganz gespanntes Gesicht.
»Und?«, sagen sie alle im Chor.
»Und was?«, sagt Tannenbaum.
»Na, kaufen Sie ihr das Haus ab?«, ruft Papa und lässt Soße auf sein Hemd tropfen.
»Deshalb sage ich dir jeden Tag: Zieh dich um, wenn du von der Arbeit kommst!« Mama verdreht die Augen, und jetzt wird Papa rot. Und ich dachte, das mit dem Rotwerden hört auf, wenn man erwachsen ist.
»Ich kann es ihr nicht abkaufen, sie will dreihunderttausend haben!«, sagt Tannenbaum.
»Dreihunderttausend!«, sagen meine Eltern und Frau Müller-Böhne, wieder im Chor. Papa kleckert weiter, diesmal Rotwein auf die Tischdecke.
»Die bekomme ich garantiert nicht zusammen«, sagt Tannenbaum leise. »Schon gar nicht bis Monatsende. Früher oder später muss ich also hier raus.«
»Dann zeigen wir ihr eben, dass Sie ein verdammtes Recht darauf haben, hier zu wohnen! Wie man’s Ihnen versprochen hat!«, höre ich mich sagen, und ich habe keine Ahnung, wie ich auf so was komme. Habe ich das wirklich gesagt?
Mama strahlt. » Das ist mein Sohn!«
Papa schaut nicht ganz so begeistert, sagt aber nichts. Vielleicht, weil Mama ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat und fest zudrückt.
Frau Müller-Böhne zupft an ihrer Unterlippe herum. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. »Und was passiert jetzt am Monatsende?«
Tannenbaum zuckt die Schultern. »Wenn ich nicht freiwillig das Haus verlasse, räumt es die Polizei.«
»Wie im Fernsehen?«, ruft meine Lehrerin.
»Wie damals?«, ruft Mama und strahlt Papa an. Aber Papa wischt gerade an seinen Flecken auf dem Hemd rum.
»Was ist, wenn richtig, richtig viele Leute im Haus sind?«, frage ich.
Alle schauen mich an. Jetzt bin ich mit Rotwerden an der Reihe. »Ich meine ja nur. Wenn das Haus ganz voll ist. Die denken doch, dass nur der Herr Tannenbaum hier wohnt. Aber wenn lauter Jugendliche bei ihm sind?«
»Nein«, sagt Tannenbaum. »Ihr müsst bis dahin verschwinden. Wir haben es versucht. Das Beste, was ihrtun könnt, ist, mir beim Packen zu helfen. Ich
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