Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
beerdigt wird, damit sie an sein Grab pilgern können. Außerdem habe ich (also James) ganz viele Nachrichten von Anwälten bekommen, die anbieten, die Sache ohne Kosten für die Familie zu übernehmen. Lauter Journalisten haben ihre Kommentare abgegeben.
Constanze hat auch ungefähr tausend Mal geschrieben. Wie sehr sie Jason vermisst, und ob James ihr nicht ein Andenken schicken kann.
Vielleicht schicke ich ihr etwas von mir und sage, es wäre von Jason …
Jedenfalls, ich muss irgendwas tun. (Also, James. Irgendwas muss James tun. Scheiße, ich komme schon ganz durcheinander.)
Ich denke gerade, wenn ich eine Woche nicht in die Schule gehe, sehe ich auch Constanze eine Woche nicht. Wenigstens hab ich Facebook und kann immer sehen, was sie macht. Das ist fast genauso wie Constanze in echt sehen. Sie spricht in echt ja sowieso nicht mit mir.
Dienstag, 20.9., 18:59 Uhr
Ich könnte Constanze schreiben. Also, James könnte Constanze schreiben. Dann antwortet sie, und es ist ein bisschen so, als würde sie mir antworten. Obwohl sie James antwortet. Aber den gibt es ja nicht, deshalb antwortet sie mir. Was sie nicht weiß. Wenn sie es nämlich wüsste, würde sie nicht antworten. Also James. Also, wenn sie wüsste, dass ich James bin, würde sie James nicht antworten, weil sie ja wüsste, dass ich James bin.
Genau.
Ich schreibe ihr jetzt einfach mal.
Aber was?
Dienstag, 20.9., 22:07 Uhr
Bösen Fehler gemacht.
Piesel hat seinen Bruder Ralf genannt, was der gar nicht lustig fand, und dann hat Ralf, also Ratte, seinen Bruder, also Piesel, Peter genannt. Ich wusste gar nicht, dass Piesel Peter heißt. Sogar die Lehrer nennen ihn Piesel. Komische Vorstellung, dass Piesel und Ratte normale Namen haben. Ich versuche die ganze Zeit, sie mir vorzustellen, wie sie mal ganz normale kleine Jungs waren mit ganz normalen Haaren, aber irgendwie klappt das nicht. Noch nicht mal, wenn ich sie Peter und Ralf nenne.
Jedenfalls, weil ich die beiden in Gedanken ständig Peter und Ralf genannt habe, hab ich sie irgendwann auch so angesprochen. Das war beim Abendessen. (Herr Tannenbaum hat Pizza für uns alle gemacht – also wirklich gemacht, mit Teig selber backen und so.) Meine Eltern waren da (beide), die von Anselm auch, weil sie ihn abholen wollten, haben sie gesagt. In Wirklichkeit wollten sie natürlich nur nachschauen, wie es hier ist. Anselm war das alles wahnsinnig peinlich, er ist knallrot geworden. Na ja, eigentlich nicht richtig knallrot, nur an manchen Stellen hat er komische dunkelrote Flecken bekommen. Sah ziemlich witzig aus. Arthurs Eltern interessieren sich nicht so für das, was Arthur macht, er sagt immer, sie merken wahrscheinlich nicht mal, dass einer von ihren Söhnen fehlt. Ich überlege gerade, ob Peter und Ralf überhaupt Eltern haben. Klar, müssen sie ja, aber – vielleicht sind ihre Eltern wie sie, oder sie sind vor ein paar Jahren gestorben, und Ralf und Peter müssen alleine zurechtkommen, oder was weiß denn ich, irgendwas halt. Eltern kann ich mir bei den beiden genauso wenig vorstellen, wie dass sie mal normale kleine Jungs waren.
Wo war ich? Ach, genau. Beim Abendessen. Karli hab ich noch gar nicht erwähnt. Ihre Eltern, sagt sie, sind auf Geschäftsreise, deshalb wohnt sie bei ihrer Tante, und die findet es okay, dass sie hier bei Herrn Tannenbaum ist.
Wir essen also, und ich sage zu Piesel: »Du, Peter, gib mir mal das Ketchup, wenn Ralf damit fertig ist.«
Der Fehler meines Lebens. Mich hat noch nie jemand so böse angeschaut wie die beiden. Nicht mal Constanze, als ich sie gefragt habe, warum sie nicht auf Facebook mit mir befreundet sein will.
»Warum heißt du eigentlich Edvard?«, fragt mich Ratte, als wir uns mit Nachtisch und ohne Erwachsene ins Wohnzimmer verziehen. »Ich meine, Edvard, was ist das denn für ein scheiß Name. Wenn deine Alten das wenigstens mit w statt mit v geschrieben hätten, würdest du wie der Vampir heißen und wärst cool. Aber Edvard?« Ratte lacht, und seine zwei Kumpels, die übrigens Noffi und Kugel heißen, lachen mit.
»Edvard mit Vau«, sagt Karli laut und deutlich, »ist der Name berühmter Künstler. Edvard Munch, zum Beispiel. Der Maler. Oder Edvard Grieg, der Komponist. Aber das sagt euch natürlich nichts.« Sie hebt eine Augenbraue, starrt Ratte nieder und isst weiter. Ich habe ein bisschen Angst, dass sie wieder so eine Sache macht wie letztens mit Henk und ich dann hinterher den Ärger kriege.
»Sag ich doch, uncool«, sagt Ratte
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