Egeland, Tom
Bruchstücke eines uralten Manuskripts auf einer matten Glasscheibe mit Unter licht. Eine Hand in einem Latexhandschuh pinselt unsichtbaren Staub weg.
Es ist ein Puzzle aus Papyrusschnipseln, das offensichtliche Chaos von Fragmenten, die einen Zusammenhang suchen.
Die Schriftzeichen sind unverständlich. Die Handschrift gleichmäßig, gerade.
Meine Augen kribbeln, werden nass.
Ein Manuskript …
Obgleich ich weder die Schrift lesen noch irgendeines der seltsamen Zeichen entziffern kann, bleibe ich wie gebannt sitzen und starre darauf. Ich weiß nicht, wie lange. Als ich wieder zu mir komme, schwer atmend über den Schreibtisch gebeugt, das Tagebuch aufgeschlagen neben der Fotografie und dem Zeitungsausschnitt, ist es bald elf Uhr abends.
Der Zeitungsausschnitt stammt aus der Zeitung La Dép ê che du Midi, die in Toulouse erscheint:
P riester protestieren gegen die Restaurierung der altertümlichen Kirche in Le Lieu
∗ ∗ ∗
B éziers – Lokale Aktionisten, darunter zwei Priester, wurden gestern Nachmittag bei einer nicht genehmigten Demonstration vor der altertümlichen Kirche Le Lieu –im Volksmund als » Ruhe Christi « bekannt –von der Polizei vorübergehend festgenommen.
Die verfallene Kirche, die einen Kilometer westlich von Béziers liegt, wurde im letzten Monat für fünf Millionen Franc von einem ungenannten Geldgeber mit Sitz in London erworben. Nach Informationen der Zeitung La Dép ê che du Midi soll der ebenso Aufsehen erregende wie überraschende Kauf von den lokalen Behörden auf Druck der Regierung genehmigt worden sein.
Infolge des renommierten britischen Archäologen Graham Llyleworth, der die Arbeiten an der Kirche leitet, hat der geheime Investor ein » genuines Interesse, die Kirche wieder in ihrer ganzen früheren Pracht zu restaurieren «. Die Kritiker protestierten lautstark gegen die Arbeiten, in deren Folge der Kirchenbau erst abgerissen und später Stein für Stein wieder neu errichtet werden soll.
» Entweihung! «, donnerte Jean Bovary, einer der Priester, der anlässlich der gestrigen Aktion in Gewahrsam genommen wurde.
Weiterer Stein des Anstoßes war ein von den Archäologen errichteter drei Meter hoher Zaun um das mit Flutlicht beleuchtete Gelände, das nachts von einer eigenen Wachmannschaft kontrolliert wird, um Neugierige abzuhalten.
» Jede archäologische Arbeit muss in einem gewissen Gra de unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden «, so Professor Graham Llyworth.
Die Kirche wurde laut lokaler Legenden über einer Höhle errichtet, in der ein unbekannter Heiliger seine letzte Ruhestätte gefunden haben soll. Priester Jean Bovary, der Leiter der neu ins Leben gerufenen Gruppierung » Freunde von Le Lieu «, betont, die Kirche sei eine der ältesten der Pyrenäen, wenn nicht ganz Frankreichs.
» Die Kirche ist, so wie sie heute steht, 1198 errichtet worden «, sagt Bovary. Teile der ursprünglichen Kirchenanlage, der so genannte Ostflügel, könnten jedoch mit Sicherheit in das Jahr 350 n. Chr. datiert werden. Gemäß lokaler Überlieferungen, habe sich dort schon vor dieser Zeit ein Heiligtum befunden.
Bovary fürchtet, die Archäologen könnten versuchen, zu der Grabhöhle vorzudringen, die nach der Legende versiegelt unter dem Altar liegt. » Lasst die Toten in Frieden ruhen! «, so seine Bitte.
Professor Graham Llyleworth dementiert, dass man auf der Suche nach einer Grabhöhle sei. » Das sich ein Grab oder eine Grotte unter der Kirche befinden soll, ist uns nicht bekannt «, stellt er fest. » Sollte das stimmen, werden wir natürlich die Würde der Toten wahren. «
∗ ∗ ∗
G edankenverloren starre ich auf den Brief; den Zeitungsausschnitt und die Fotografie des Papyrusmanuskriptes.
Ich denke an Diane und Grethe. An Michael MacMullin. An das Wüstenkloster. Daran, was unter der Kirche von Béziers liegt.
Ich blicke aus dem Fenster. Die Glut neugieriger Erwartung flammt in mir auf. Irgendwo dort draußen warten die Rätsel. Die großen Fragen.
Unten im Wohnzimmer beginnt das Uhrwerk von Groß vaters alter Uhr zu rumoren. Sie tickt und geht, nur nie richtig. Sie lebt in ihrer eigenen Zeit und ist zufrieden damit. Plötzlich beginnt sie, fröhlich zu läuten. Dreizehn Minuten nach elf. Ding-dang-dong!
In meinem Inneren beginnt es irgendwo zu kribbeln. Ein widerstrebendes Verlangen. Nach Wissen. Nach Verständnis.
Mein Stift kratzt über das Papier. Ein Geflecht aus Worten und Erinnerungen. Aber es gibt immer Platz für ein paar
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