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Egeland, Tom

Titel: Egeland, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frevel
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Können wir jetzt losfahren und den Schrein holen? «, fragt er.
    Ich brauche Zeit, um mich zu besinnen. Es ist nicht zu glauben, ich mustere ihn. Lange. Die esoterischen Züge seines Äußeren. Die warmen, milden Augen.
    » Das war es, was Diane meinte «, sage ich leise. » Sie ist Ihr einziges Kind. «
    Er sieht mich an.
    » Sollen wir jetzt den Schrein holen? «, fragt er noch einmal.
    » Wir müssen dafür nicht losfahren. «
    Er sieht mich fragend an.
    » Der Schrein ist hier. «
    » Hier? « Verwirrt starrt er in den Regen.
    » Wollen Sie das Oktogon sehen? «
    » Der Schrein ist hier? «
    » Kommen Sie mit! «
    Wir steigen aus dem Auto in den Regen. Ich schlüpfe durch die Plastikabsperrung mit dem ZUTRITT-VERBOTEN-Schild und halte sie für MacMullin auf. Die Bewegung lässt das Wasser vom Plastik tropfen.
    Beim Schacht bleibe ich stehen. MacMullin starrt auf die achteckige Grundmauer.
    » Das Oktogon! «, sagt er nur. Etwas Andächtiges ist über ihn gekommen.
    Der Regen hat die Erde von den Steinresten gewaschen, die aus dem Schlamm ragen.
    » Das Oktogon «, wiederhole ich.
    Er ist ungeduldig. » Können wir den Schrein jetzt holen? «
    Ich springe in den Schacht, hocke mich hin und beginne zu graben.
    Erst jetzt geht ihm ein Licht auf.
    MacMullin beginnt zu lachen. Erst leise. Dann laut und schallend.
    Und während er lacht, während sein Gelächter durch den Regen über die Schächte und Äcker schallt, grabe ich den Schrein aus meinem Versteck aus. Dem exakt gleichen Ort, an dem wir ihn gefunden haben. Der letzte Ort, an dem sie gesucht hätten.
    Die Erde gurgelt, als ich die Tasche mit dem Schrein aus dem Schlamm ziehe, der sie mit seinen Armen festhält. Vorsichtig drehe ich mich um und reiche Michael MacMullin den Schrein. Umgeben von dem zeitlosen, herben Geruch des Regens und der Erde.
    3
    MIT ZITTERNDEM STIFT webe ich mein Spinnennetz aus Erinnerungen.
    Vor dem Fenster liegt der Hof von Großmutters Sommerhaus. Die letzten Blätter klammern sich an den Zweigen der Eiche fest. Als könnten sie es nicht fassen, dass der Herbst sie bald zu sich holen wird.
    D er Abend, an dem ich Grethe meine Liebe gestand und sie mich so zärtlich und besorgt zurückwies, dass ich noch lange danach dachte, sie hätte das getan, um ihre tieferen Gefühle für mich zu verbergen, liegt mittlerweile lange zurück. Aber ich weiß, wie ich ihre Wohnung in Frogner verließ und im Sprühregen zurück zu meinem Zimmer in Gr ü nerløkka schlenderte. Ich wurde klitschnass. Noch immer erinnere mich an ihre Worte zum Abschied. Sie hatte meine Hände genommen und streichelte sie wie eine Mutter, die ihren Sohn tröstet.
    Nichts hört jemals wirklich auf, sagte sie, es geht nur anders weiter.
    Die Männer in dem roten Range Rover sind gemeinsam mit MacMullin weggefahren. Sie warteten bereits, als ich Bolla vor dem Sommerhaus parkte. Offenbar sind sie nie weit entfernt.
    Vor seiner Abreise drückte MacMullin meine Hand und sagte, ich hätte das Richtige getan.
    Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
    Als der Range Rover auf die Landstraße bog und die roten Rücklichter hinter dem Laub verloschen, ging ich hinein und stieg die knirschende Treppe zu meinem ehemaligen Kinderzimmer hoch.
    Natürlich waren sie hier.
    Wie unsichtbare Geister haben sie das Haus vom Keller bis unters Dach durchsucht. Ohne Spuren zu hinterlassen. Längst haben sie alle Sachen von Diane entfernt. Aber auch sie sind nicht unfehlbar. Ihre vier Seidenbänder hängen schlaff von den Bettpfosten herunter. Vielleicht meinten sie, es seien meine. Und dachten sich ihren Teil.
    4
    ICH SCHIEBE DEN SCHREIBTISCH ans Fenster und nehme das Tagebuch hervor. Die Regentropfen ruckeln und zappeln sich an der beschlagenen Scheibe nach unten. Durch die Streifen aus Wasser erinnert der Fjord an eine stille Flut –blank und kalt liegt er hinter der kahlen Hecke.
    Meine Haut glüht und kribbelt.
    Ich denke. Ich schreibe. Die Worte lösen sich im Nichts auf, Worte über Geschehnisse, die irgendwie nie geschehen sind, über Menschen, die nie gelebt haben. Flüchtig, vergänglich. Wie die Worte in einem Buch, das man einmal gelese n u nd dann mitten auf dem Regal ins Reich des Vergessens eingeordnet hat.
    5
    S o ENDET DIE GESCHICHTE. Oder so könnte sie enden. Denn im Grunde gibt es nie einen Schluss. Alles geht irgendwie anders weiter. Wo beginnt und wo endet ein Kreis?
    Nachdem MacMullin den Schrein mit in die Stille genommen hat, bleibe ich im Sommerhaus, um meine Gedanken

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