Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
heraus, dass der Wiederaufbau Frankreichs ohne massive amerikanische Unterstützung kläglich scheitern musste. Noch bis zum Sommer 1947 sollte es jedoch dauern, ehe der amerikanische Außenminister George Marshall den nach ihm benannten Plan verkündete, ohne den der westliche Teil des europäischen Kontinents in hoffnungslosem Chaos versunken und am Ende zum wehrlosen Opfer des sowjetischen Eroberungshungers geworden wäre. Erst auf dieser Grundlage konnte auch Frankreich ernsthaft die Wiedergeburt seiner wirtschaftlichen und sozialen Lebensfähigkeit in Angriff nehmen, konnte später die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft schaffen, konnten auch die übrigen beteiligten Ländern die Türen für eine gesunde wirtschaftliche und soziale Entwicklung öffnen – alle zusammen aber damit die Grundlagen für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schaffen.
Längst begeisterte das Ideal eines vereinten Europa allerorts die Träume der jungen Menschen. Mehr als das: Winston Churchill hatte 1946 in Zürich zur Gründung der »Vereinigten Staaten von Europa« aufgerufen. Trotzdem stieß die allgemeine Begeisterung schneller als gedacht auf die ernüchternde Wiederbelebung nationaler Eigensucht und kurzsichtiger Eifersüchteleien – um bald darauf daran zu scheitern. Jean Monnet hingegen war entschlossen, beharrlich weiter für die Ideale und Zielsetzungen zu kämpfen, die er aus tiefster Überzeugung teilte. Irgendwelchen Illusionen über die offenen wie die geheimen Widerstände, mit denen zu rechnen war, ist er dabei nie erlegen. In seinem Büro stand das Modell des Floßes Kon-Tiki, mit dem der norwegische Forscher Thor Heyerdahl sich 1947 auf den Weg durch den südlichen Pazifischen Ozean gewagt hatte – als Symbol für die ebenso abenteuerliche Entdeckungsreise zu einem neuen Europa.
Es galt, mit einem unvermeidlichen Dilemma zu leben. Nahezu beispielhaft waren von Anfang an die vielfältigen Irrfahrten und Umwege vorgezeichnet, denen das große geschichtliche Projekt einer Zusammenführung der europäischen Nationen in den nun folgenden Jahrzehnten – und bis zum heutigen Tag! – immer wieder von neuem ausgesetzt sein sollte: die regelmäßig wiederbelebte und von Begeisterung getragene Hoffnung auf einen »großen Wurf«, und als Gegensatz dazu die nüchterne Erkenntnis, dass es zu dessen Realisierung der Mühe härtester Arbeit im Kleinen, der Bereitschaft zu klugen Kompromissen und der Zähigkeit bedarf, sich selbst durch allergrößte Schwierigkeiten nicht beirren zu lassen.
Wenn wir nicht aufpassen, könnte sich heute akuter als je zuvor erweisen, dass das Projekt gerade wegen dieses scheinbaren Widerspruchs an einem lebensgefährlichen Wendepunkt steht. Denn niemand kann ernsthaft die Augen davor verschließen, dass der Traum von einer Gemeinschaft der Europäer, die imstande ist, sich in der globalisierten Welt zu behaupten, nur unter einer Voraussetzung vollendet werden kann. Sie lautet, dass die entschlossen weitergeführten »Mühen der Ebenen« endlich wieder getragen werden müssen von einer glaubwürdigen, für die Bürgerinnen und Bürger verständlichen und sie überzeugenden politischen Zielsetzung, einer Vision.
Zwar soll Helmut Schmidt bekanntlich in der ihm eigenen lapidaren Art einmal bemerkt haben, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Doch in unserem Zusammenhang ist Widerspruch angebracht. Endgültig scheitern wird das Projekt nur dann, wenn niemand mehr den Mut aufbringen sollte, den Menschen offen und ohne Umwege zu sagen, dass jede und jeder von uns endlich bereit sein muss, die unvermeidlich damit verbundenen Lasten – womöglich einschließlich mancher materieller Einschränkungen – auf sich zu nehmen. Überzeugend kann das nur dann gelingen, wenn es von einer glaubhaften Vision getragen wird. Wir werden darauf zurückkommen.
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Trotz der Welle von Zuversicht, die von der Verkündung des – nun wahrhaft historischen – Marshall-Plans ausging, stellte sich jedenfalls sehr bald heraus, dass selbst die schönsten Blütenträume nicht einfach im Handumdrehen reifen würden. Neben den erwähnten »Vereinigten Staaten von Europa« gab es davon nicht wenige andere. An vorderster Stelle stand die auch von den Amerikanern unterstützte »Europäische Bewegung«, die anfänglich sogar zur Gründung eines förmlichen »Europarats« durch Frankreich, Großbritannien, Italien, Irland, die Benelux-Staaten
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