Ehen in Philippsburg
der Tür kam, hinter der er Birga vermutete – wahrscheinlich las sie oder schrieb einen Brief –, desto intensiver versuchte er sich einzureden, Birga sei es doch wert, daß er sein Leben mit ihr verbringe, mehr wert als Cécile.
Aber sofort schämte er sich, hätte am liebsten kehrtgemacht, wäre zu Cécile gefahren, um sie um Verzeihung zu bitten. Es war lächerlich, die beiden Frauen zu vergleichen. Noch lächerlicher war es zu denken, daß diejenige, die mehr wert sei, ihn eher verdiene. Ich bin immer noch zu eitel, dachte er. Vielleicht ist das sogar die Wurzel allen Elends, und nicht nur des meinigen. Ich will nicht auf mich verzichten. Ich will mich aufspielen, ganz gleich, was dabei herauskommt. Weil wir keinen Gott und auch sonst nichts haben, dem zuliebe oder dem zum Gehorsam wir verzichten, schießen wir ungehemmt in die Höhe, wachsen wie wir wollen, Unkraut in einem herrenlosen Garten, ranken uns durcheinander, bis wir uns alle doch wieder zu Boden ziehen, bis noch rücksichtslosere Gewächse über uns hinwegwachsen, worauf wir in ihrem Schatten verfaulen. Dicht vor der Wohnzimmertür blieb er stehen und bewegte sein Gesicht grimassierend, um es zu lockern und bereit zu machen, Birga jenen abgespannten Mann vorzuspielen, der ein Recht auf Nachsicht und Schonung hat. Er drückte die Klinke nieder, bemerkte noch, daß aus dem dunklen Gang Hektor aufsprang und hinter ihm durch die Tür schlüpfte, dann blieb er stehen. Birga lag rücklings auf dem Wohnzimmerteppich. Zu einem Halbkreis gekrümmt. Die Hände weit ab auf dem bemusterten Velours. Die Finger auseinandergespreizt. Er konnte nichts dafür, aber eine Sekunde lang dachte er, als er ihre Finger sah: Grünewaldchristus, und: Violinvirtuose. Auf dem Tisch ein Glas. Halb leer. Sie hatte sich also vergiftet. Hilfe war nicht mehr möglich, das sah er sofort. Er fiel in den nächsten Sessel. Sprang noch einmal auf, jagte Hektor weg, der in Birgas Gesicht herumschnüffelte, trieb ihn hinaus und schloß ab. Dann saß er. Wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Gedanken hatte er keine. Der Druck der Stille. Das nächste Geräusch mußte ihn zerreißen. Als er sich atmen hörte, hielt er sofort den Atem an, ließ die Luft, die er noch in den Lungen hatte, ganz langsam und unhörbar aus den Mundwinkeln streichen, holte ebenso langsam und unhörbar gerade soviel Luft, als er unbedingt brauchte, um nicht ohnmächtig zu werden. Wenn die Kraft seines Willens ausgereicht hätte, nicht mehr weiterzuatmen, sich selbst an Atemnot sterben zu lassen, er hätte es getan. Aber immer, wenn die letzte Luft aus seinen Lungen gewichen war, wenn er spürte, wie der Druck in seinen Schläfen, in seiner Kehle wuchs, das Blut sich tosend staute, dann verriet ihn sein Mund, ließ ihn im Stich, japste weit auf nach dem nächsten Happen Luft, und die Lungen sogen sich voll bis zum Bersten, wieder und wieder, er konnte nichts dagegen tun.
Auf einen Zettel schrieb er die Anschrift des Hotels, in das er dann fuhr, um zu übernachten. Vom Hotel aus wollte er die Polizei anrufen und einen Freund, einen Kollegen. Die sollten alles erledigen, was zu erledigen ist, wenn der Tod in dieser Gestalt in ein Haus hineingreift. Auf dem Hotelbett sitzend überlegte er, welchen seiner Kollegen er anrufen konnte. Er war froh, daß das eine langwierige Überlegung notwendig machte, weil er dann an nichts anderes denken mußte.
Drei Kollegen kamen in Frage, die drei, die wie er, Betten im Elisabethenhaus hatten. Aber welchen konnte er anrufen? Torberg vielleicht? Der hatte drei Ehen hinter sich und lebte jetzt allem. Allerdings hatte keine seiner Ehen so geendet. Benrath bemühte sich, ganz fest an Torberg zu denken, an nichts als an Torberg, die massige Gestalt seines Kollegen wuchs vor seinen Augen auf, wuchs, bis sie das ganze Zimmer ausfüllte. Der Körperverehrer Torberg, der von April bis Oktober auf seinem Balkon schlief (den er zu diesem Zweck mit feingliedrigen Campingmöbeln bestückt hatte), der zweimal in der Woche in die Sauna ging und zweimal zum Masseur, um sich Schmeicheleien über seinen so gut erhaltenen Körper sagen zu lassen, der nicht wahrhaben wollte, wie tief er schon im climacterium virile steckte, der sich einen rassigen Sportwagen nach dem anderen kaufte, sich von Fachleuten die feinsten technischen Zutaten einbauen ließ, aber trotz allem keinen seiner Wagen richtig ausfahren konnte (nach einem Jahr waren sie kaputt, weil er sie nur in den kleinen Gängen
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