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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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war zum auslösenden Moment geworden: seine Neigung zu Cécile brach aus wie eine Krankheit. Aber er hatte sie fast gewaltsam seinen Wünschen unterwerfen müssen. Die Scheu vor dem stadtbekannten Arzt, die Achtung vor seiner Ehe, die Achtung vor Birga auch, die sie mehr als andere Kundinnen schätzte, und die Ahnung, daß sie Alf mehr lieben würde als jeden anderen vor ihm, das alles hatte sie seine Gesellschaft mehr fliehen als suchen lassen. Aber Benrath konnte nicht mehr zurück. Seine Überlegenheit war dahin. Er brillierte nicht. Er spielte sich nicht auf. Er bat so gewaltsam, daß Cécile nachgeben mußte. Dann unterwarf er sich. Sie hätte mit ihm nach Belieben verfahren können. Aber auch sie wollte nichts, als ihm unterworfen sein. Tage, Wochen voller Offenbarungen folgen. Wie anders wird doch ein Mensch, wenn die Wortdecke abfällt von ihm, wenn er sein darf, wie er ist, wenn er nicht in jedem Augenblick einen gedachten Anspruch zu erfüllen sich müht!
     Und wie sehr war sie ihm jetzt überlegen. Sie war stärker als er, weil sie mehr litt, als er je leiden konnte. Denn schon nach wenigen Tagen gestanden sie sich ein, daß sie gemeinsam ein Unglück heraufbeschworen hatten, ein Unglück, das irgendwann einmal öffentlich sichtbare Gestalt annehmen mußte, da sie ihre Beziehung zueinander als unaufhebbar empfanden.
     Birga hatte er nichts sagen können. In jahrelanger sorgfältiger Bemühung hatte er ein Netz feingesponnener Lügen zwischen Birga und der Wirklichkeit aufgespannt. Er hatte begonnen, jene verzweifelt rotierenden Gespräche planvoll zu benützen, um Birga, wie er es nannte, »allmählich zu desillusionieren«. Er wollte ihre wilde Verträumtheit, ihre absoluten Erwartungen auf ein irdisches Maß zurückführen, wollte ihr nach und nach beibringen, daß es auf der Erde unmöglich sei, so absolute Gefühle zu bewahren und sie von anderen zu fordern, daß es sogar Ehen gebe, die in völliger Abwesenheit von Liebe existierten. Nicht, daß er eine solche Ehe wünsche, aber Birga müsse wenigstens die Möglichkeit einer solchen anerkennen. Er wußte, daß er sich nicht trennen konnte von Birga, auch wenn er es wünschte, auch wenn er manchmal nach Cécile schrie und sich den Kopf wund stieß an den Umgrenzungen, in die er sich im Laufe seines Lebens gebracht hatte. Es war, als hätte er mit Birga die Verpflichtung übernommen, in diesem so ganz anderen Jahrhundert einen letzten Hort absoluter Empfindung zu schützen, als hingen alle Ehen der Welt von seiner Kraft ab, mit Birga weiterzuleben. Sich von Birga zu trennen, das wäre ihm vorgekommen, als zerstöre er die Ordnung in ihrem letzten, sowieso schon arg beschädigten Kern. Birga würde eine Trennung auch nicht einen Atemzug lang überleben. Er wäre zum Mörder geworden. Das wußte er. Und das wußte auch Cécile.

    Als er jetzt sein Auto durch die übervölkerten Straßen des frühen Abends heimwärts steuerte, als er die vielen Gesichter sah, die übers Steuer gebeugt ihren Weg suchten, und die, die vor seinem Kühler noch schnell die Straße überquerten und ängstlich Kontakt mit ihm suchten, um sich rasch noch zu vergewissern, daß er ihre Absicht auch bemerkt habe, als er die immer wieder haltenden und immer wieder anfahrenden Autos sah und die mechanische Geschäftigkeit der Motorradfahrer, die sich überall durchdrängten, als er die Anstrengung bemerkte, die jeder aufbrachte, um sein bißchen unglückliche Haut heil nach Hause zu bringen, da hörte er auf, sich an seinen Begrenzungen zu verletzen, da fühlte er sich aufgehoben im Strom der Hastenden, deren Krankheiten er kannte, deren Sorgen die seinen waren.
     Vielleicht bricht übermorgen ein Krieg aus, dachte er, dann fliehe ich mit Cécile. Aber nicht einmal das würde er tun.
     Später stirbt man ja, so oder so, dachte er. Das ist die einzige Gewißheit, die man im voraus haben kann. In allem anderen war er ein Mann nachträglicher Feststellungen. Eines Tages hatte er festgestellt, daß er Birga geheiratet hatte, daß er eine Praxis in Philippsburg hatte und eine eigene Abteilung im Elisabethenkrankenhaus. Und als er bemerkt hatte, daß er Cécile brauchte, da war es schon zu spät gewesen, da glaubte er, nicht mehr verzichten zu können. Sein Leben bestand, genau besehen, darin, mit diesen immer nachträglich festgestellten Tatsachen auf seine Weise fertig zu werden. In seinem Beruf war er – wie hätte das anders sein können – unbeirrbarer Anhänger der konservativen

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