Ehen in Philippsburg
beobachtete er jede Reaktion seiner Zuhörer, weil er sie durch nichts besser kennenlernen konnte. Er hatte daraus geradezu eine Methode entwickelt, die es mit anderen Methoden, Menschen kennenzulernen, durchaus aufnehmen konnte.
Aber gegen Frühstückssäle spürte er immer noch einen Widerwillen. Seit er einmal einen Frühstücksgast auf die Frage des Kellners, ob er zum Frühstück ein Ei servieren dürfe, in unverschämter Offenheit hatte antworten hören, der Kellner möge ihm bitte drei Eier servieren und die im Glas, da er sich, wie er sich ausdrückte, »in der vergangenen Nacht völlig verausgabt« habe – und dabei hatte er seine Begleiterin mit listigen Augenzwinkern angeschaut, und beide hatten laut gelacht –, seitdem hatte Benrath Hotelsäle, in denen gefrühstückt wurde, nur noch betreten, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Er bezeichnete diesen Widerwillen als ein atavistisches Trauma in seinem Seelenhaushalt, denn im allgemeinen war er wirklich unempfindlich geworden diesen ehemals so heiklen Dingen gegenüber. Aber dieses Trauma pflegte er mit Sorgfalt, in ihm verkörperte sich für ihn eine Jugend voller natürlicher Geheimnisse und Ängste, seliger Ängste, von heue aus gesehen.
3
Benrath setzte sich in sein Auto und führte umständlich, als fahre er zum ersten Mal, alle Bewegungen aus, die nötig sind, ein Auto in Gang zu setzen. Langsam bog er in den schon recht turbulenten Vormittagsverkehr ein und ließ sich von der Hast der anderen Fahrzeuge treiben, über ein paar Kreuzungen hinweg, immer weiter, ohne daß er wußte, wohin er wollte, ließ sich überholen, bog hinter einem langsamen Lieferwagen in eine Seitenstraße ein, ohne es zu merken, blieb an dem Lieferwagen hängen, bis dieser plötzlich vor einem Gemüsegeschäft anhielt und Leute begannen, flache Tomatenkistchen abzuladen. Benrath stoppte und stellte den Motor ab. In der Klinik würde ihn Dr. Rennert vertreten, die Praxis konnte geschlossen bleiben, die Polizei würde ihr Geschäft erledigen, Rennert wußte hoffentlich besser als er selbst, was alles nötig war zur bürgerlichen Abwicklung eines Selbstmordfalles vom Augenblick der Entdeckung bis zum Begräbnis. Benrath nahm sich vor, eine kurze Beschreibung anzufertigen, in der er schildern würde, wie er Birga angetroffen hatte. Diese Beschreibung würde er Dr. Rennert übersenden oder noch besser einem Rechtsanwalt, Dr. Alwin zum Beispiel, das war überhaupt die beste Lösung; den hätte er gleich anrufen sollen, natürlich Alwin, der war zwar ehrgeizig wie ein Hahn, aber wahrscheinlich war er in diesem Fall eher am Platz als Dr. Rennert. Vielleicht mischte sich die Staatsanwaltschaft ein, wer konnte das wissen? Seinen Bruder, der Erster Staatsanwalt in Philippsburg war, mochte er gar nicht erst verständigen, der würde ihn sofort aufsuchen, um ihm kluge Vorträge zu halten, die anzuhören er jetzt nicht in der Lage war. Sein Bruder war schlimmer als eine sechsstöckige Behörde. Und Behörden aller Art machten Benrath hilflos. Schon einen Antrag auszufüllen, beanspruchte ihn bis an den Rand seiner Kräfte. Die Fragen auf den Formularen verstand er nicht. Sie waren für ihn in Fremdsprachen geschrieben, die einer außereuropäischen Sprachenfamilie angehörten. Sein Studium hatte er, ganz gegen die herrschende Gewohnheit, an einer einzigen Universität absolviert, weil er sich den bürokratischen Anforderungen, die eine Exmatrikulation und eine erneute Immatrikulation mit sich brachten, einfach nicht gewachsen fühlte. Reisevorbereitungen, Zimmer- oder Wohnungssuche und Umzüge gehörten ebenfalls zu jenen Leistungen, an die er nicht denken konnte, ohne sich einen baldigen Tod zu wünschen, der ihm all diese Geschäfte abnehmen möge. Als er sich nun besann, was alles zu tun sei und wie er sich zu der Tatsache, daß Birga tot war, verhalten solle, da stellte er fest, daß er zu keinem Gefühl fähig war. Er saß in seinem Auto, und dieses Auto stand in einer winzigen Querstraße hinter einem grünen Lieferwagen, von dem immer noch kleine Obstkistchen abgeladen wurden, die so flach waren, daß die Tomaten prall und rot über die hellen Seitenbrettchen hinwegleuchteten. Jetzt noch Tomaten? Aus dem Süden wahrscheinlich. Ein Mädchen und eine Frau stapelten die Kistchen im Inneren des Gemüseladens. Sie taten dies mit so flüssigen Bewegungen, mit solcher Eile und Gewandtheit, beugten sich vor, nahmen ein Kistchen in Empfang, schnellten hoch, stellten es auf die
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