Ehen in Philippsburg
schätzt er sie ein. Der Mörder riskiert sein Leben, um die Ordnung wiederherzustellen, die für ihn solange gestört erscheint, als der, den er töten will, noch lebendig umhergeht. Daß der, den man einen Sexualverbrecher nennt, die Schöpfung wie kein anderer feiert, bedarf keiner weiteren Erklärung. Es ist wirklich allein der Lügner, der Gott negiert und sich an seine Stelle setzt, sich zumindest neben ihn setzt, um die Welt zu entwerfen, die er gerade für notwendig hält… Dr. Benrath pfiff vor sich hin, als er am Haus entlang auf die Treppe zuging. Er pfiff wie ein Kind, das in den Wald hineingeht. Mit ein paar leichten Sätzen sprang er die Treppe hinauf, schlenkerte den Schlüsselbund am Zeigefinger der linken Hand, tat, als sei er ganz ohne Gedanken, ganz ohne besondere Erwartungen, nur ein Mann, der abends heimkommt, sehr müde und ein bißchen froh, ein Mann, der den ganzen Tag hindurch so viele Weisungen zu geben hatte, so viel Ordnung aufrechtzuerhalten, der so viel Ruhe und Zuversicht ausströmen mußte und so viel Verantwortung tragen, daß er beanspruchen durfte, am Abend nicht mit allzu vielen Fragen behelligt zu werden, daß er ein Recht hatte, ein bißchen einsilbig zu sein, ein bißchen mürrisch auch und zerstreut. Benrath indes war gar nicht müde, gar nicht überanstrengt, das war er fast nie, aber er hatte sich diese Stimmung immer wieder angeeignet, weil sie es ihm erlaubte, Birga abwartend entgegenzutreten und sie bei der Begrüßung zu beobachten, um zu sehen, ob sie irgendeinen Argwohn hegte, ob ein Anruf gekommen war, ob irgendeine Stelle im Netz seiner Lügen in Gefahr war, brüchig zu werden. Ich bin doch noch ein fast anständiger Mensch, dachte Benrath, sonst wäre ich jetzt nicht so aufgeregt, sonst würde ich mit kalter Frechheit vor Birga hintreten, ohne Skrupel, ohne tiefinneres Zittern und Angst. Daß er seine Augen immer wieder hastig über seine Kleidung hinflattern ließ, ob auch nirgendwo Spuren zurückgeblieben waren – aber Cécile paßte ja so gut auf! –, daß er gar kein Routinier in all den Jahren geworden war und heute ein so schlechtes Gewissen hatte wie eh und je, das beruhigte ihn fast, stimmte ihn ein bißchen zärtlich und mitleidsvoll sich selbst gegenüber, er streichelte sich, tat sich leid und honorierte sich mit Hochachtung und mit dem Zuspruch, daß er eines Tages sich doch noch zum Guten hinwenden werde. Er war ein Ein-Mann-Theater. Er war der Autor des Stückes, hatte gleichzeitig den unverbesserlichen Schurken, den Edelmenschen und den noch zu rettenden Schurken zu spielen, dazu noch den weise kommentierenden älteren Verwandten und den zynisch-jugendlichen Freund und den alles beobachtenden Lüstling und noch das ganze vom Saal aus zuschauende Publikum, das einmal stürmisch applaudierte und ein anderes Mal pfeifend und schreiend protestierte. Und alle Rollen hatte er so ernst und intensiv zu spielen, als sei die jeweilige Rolle seine einzige, seine Lebensaufgabe. Wenn er jetzt verzweifelt den Flur entlangging, dem Wiedersehen mit Birga entgegenbangend, wenn er sich schwor, daß er alles, alles, alles daransetzen werde, einen solchen Gang nicht noch hundertmal tun zu müssen, weil er sich nicht mehr stark genug fühlte, die erlogene Welt und die wirkliche auf seinen Schultern zu tragen, dann füllte ihn seine Verzweiflung ganz aus, und es war kein Platz mehr für etwas anderes, oder doch? Lobte er sich nicht schon wieder dafür, daß er verzweifelt war, daß er das noch sein konnte? Sah er sich nicht selbst schon wieder zwischen einzelnen mimischen Möglichkeiten, welches Gesicht seine Verzweiflung am besten auszudrücken vermöchte? Es war doch alles Theater. Aber deswegen war es nicht leichter. Er schrie sich das zu. Nichts sei leichter deswegen, die einzelnen Rollen brennten ihm nicht weniger auf dem Leib, sie forderten nicht weniger Kraft, bloß weil er in mehreren Personen existiere. Im Gegenteil, es sei noch viel schmerzlicher, weil er andauernd seinen eigenen Augen ausgesetzt sei. Auf jeden Fall beanspruche er das Recht, in dieser Verzweiflung, die ihn jetzt ausfülle – ja ausfülle! –, den einzigen Anlaß zur Hoffnung zu sehen, zu der Hoffnung, daß er später einmal, wann, das könne er jetzt, vor der Tür, nicht bedenken, aber irgendwann einmal werde er wieder als ein anderer heimkommen, vielleicht als einer, der zu singen beginnt, wenn er durchs Gartentor fährt, zu singen oder auf jeden Fall fröhlich zu pfeifen.
Je näher er
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