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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Schule der Geburtshilfe; das sind jene Ärzte, die im Gegensatz zur aktiven Schule, den Akzent nicht auf das Wort »Hilfe«, sonder auf das Wort »Geburt« legen, die von der gebärenden Mutter mehr erwarten als vom technischen Zugriff. Er war bekannt dafür, daß er auch in den kompliziertesten Situationen fast nie zu den Zangen griff und auch dann manchmal – das muß gesagt werden – zu spät. Und doch war er ein guter Arzt geworden, er konnte heilen, sein Wesen beförderte Gesundung. Er war Arzt geworden, weil sein Vater Arzt gewesen war. Von einer anderen Möglichkeit war nie gesprochen worden. Dann war er neugierig gewesen auf die Entwicklung, die er nehmen würde. Genauso neugierig war er im Grunde genommen auf die Entwicklung seiner Beziehung zu Cécile. Alle aktiven Einfälle, Fluchtphantasien, die kraftvollen Aufwürfe gegen das, was einmal wirklich geworden war, alles Revoltieren war das, was er »physiologische Notwendigkeiten« nannte, Angelegenheit des Kreislaufs, rasch auflebend und wieder versinkend, zurückgenommen von einer nach unbeeinflußbarem Plan wirkenden Natur. Zu den physiologischen Notwendigkeiten gehörte auch sein Bedürfnis nach gesellschaftlichem Umtrieb. Er war bei alldem nicht heiter, nicht ausgelassen und fröhlich. Wenn ihm das Wort »glücklich« nicht so gänzlich wider die Natur gegangen wäre, so sehr, daß er es als ein Primanerwort abtat, als ein Wort recht vorläufiger Lebenserfahrung oder allzu leichtfertiger Beurteilung irdischer Verhältnisse, dann hätte er sich einen »unglücklichen Menschen« genannt; aber die Redlichkeit des Denkens verbot ihm, die negative Version eines Wortes auf sich anzuwenden, dessen Stamm er als eine Mißbildung empfand, eine Blume des Irrtums im menschlichen Sprachgarten.
     Bei einer Party hatte er einmal einem neugierigen Mädchen, das ihn gefragt hatte, ob er in seinem Beruf glücklich sei, geantwortet: »Ich bin weder glücklich noch unglücklich, sondern achtunddreißig Jahre alt.«

    2

    Während seine Hände das Gartentor öffneten, suchten seine Augen die Vorderseite des Hauses ab, streiften von Fenster zu Fenster, ohne daß er den Kopf sichtbar hinaufgedreht hätte. Er mußte den Anschein erwecken, als suche er nichts, als sei alles nur eine ganz mechanische Bewegung seines Kopfes, eine Bewegung ohne jede Absicht, da ja seine Aufmerksamkeit den Händen zugewandt sei, die das Gartentor öffneten. Aber seine Augen brannten, sein Blut stampfte in den Schläfen, jedes Fenster fixierte er genau: die Vorhänge, die Scheiben, war da ein Schatten, beobachtete Birga seine Ankunft, stand die Tür offen, hatte sie ihn nicht gehört, hatte er den ersten Satz noch im Kopf, den er sich zurechtgelegt hatte, hatte er zu deutlich zum Haus hinaufgeschaut und sich dadurch schon verraten, dann mußte er noch nachlässiger vom Gartentor wegtreten, sich noch bequemer und erschöpfter ins Auto zurückfallen lassen, obwohl alle seine Muskeln starr waren, als bewege er sich im Strahl eines riesigen Scheinwerfers und aus allen Fenstern beugten sich Beobachter! Langsam schob er sich bis zur Garagentür. Hektors Hütte war leer. Die Garagentür öffnen, nicht hastig, allenfalls ein bißchen überdrüssig, weil man das jeden Tag tun muß; aussteigen, aufmachen, wieder einsteigen, reinfahren, aussteigen, zuschließen… Keine Unsicherheit zeigen. Eine Lüge ist um so wirksamer je weiter sie von der Wahrheit abweicht, je krasser sie sich behauptet, je sicherer sie auftritt. Schlimm sind die Halbwahrheiten. Sie sind die Hölle. Für den Lügner und für den Belogenen. Die Halbwahrheiten sind voller Löcher und durchsichtiger Stellen, überall grinst die Entlarvung heraus, Beschämung und Ekel im Gefolge. Die Lüge aber, die perfekte, die die Wahrheit ausschließende Lüge, sie kann, wenn man sie nur lang genug und immer wieder mit der Leidenschaft eines ganzen menschlichen Daseins speist, wirkliche Häuser tragen und ein Leben aufnehmen und , behüten. Der Lügner muß eine Art Künstler sein, ein Erfinder zumindest, ein Baumeister, ja sogar ein Schöpfer, eine Variation Gottes, denn er muß der bestehenden Wirklichkeit eine zweite hinzufügen, eine komplette Welt, die Bestand hat, Wärme und Nahrung. Er ist natürlich von allen Sündern der schlimmste. Jedes anderen Sünders Werk ist gegen das seine eine Verherrlichung der bestehenden Welt als einer göttlichen Schöpfung. Der Dieb riskiert Ehre und Freiheit, um aus dieser Welt etwas für sich zu gewinnen, so hoch

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