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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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und jedes wurde bearbeitet und bearbeitete selbst, ein Ende dieses Prozesses war nicht vorgesehen; der Bearbeitungsprozeß registrierte keine Stufe der Vervollkommnung, selbst wenn es eine Vollkommenheitsstufe in diesem Prozeß gab, so funktionierte alles ohne die geringste Unterbrechung weiter, die Vollkommenheitssekunde ging ganz mechanisch über in die Periode der Zerstörung, denn selbstverständlich hielt kein Material und kein Mensch diese Bearbeitung für alle Zeit aus. Menschen und Werkstücke arbeiteten aneinander als Glieder eines Prozesses, der nichts bezweckte als die Vernichtung allmählich unterschiedslosen Materials, ein Ende war in vorstellbarer Zeit nicht abzusehen.
     Das Kopfweh, das Benrath verspürte, als er aufstand, führte er auf die starke Dosis Schlaftabletten zurück. Dem Portier sagte er, er werde noch ein paar Nächte bleiben. Als der Portier ihn in den Frühstückssaal treiben wollte, floh er. Ihm genügte es, durch die spaltbreit geöffnete Tür die brötchenkauenden Gesichter wohlausgeschlafener Geschäftsleute zu sehen, die vielen weißen Serviettenkleckse, die unter den Gesichtern hingen, und die Frauen, die die ersten Morgenstunden hindurch nicht verleugnen können, daß die Hotelumgebung, die tadelosen Betten, das gelbe Licht und überhaupt das Gefühl, auf einer Reise zu sein, ihre männlichen Begleiter während der letzten Nacht zu besonderen Liebesbezeigungen befähigt hatten. Benrath wäre es bestimmt schlecht geworden, wenn er inmitten dieser nach Geschäftigkeit und Sexualität riechenden Hotelherde hätte frühstücken müssen. Er war am Vormittag verletzlich wie zu keiner anderen Tageszeit. Er hatte nichts einzuwenden gegen reisende Geschäftsleute oder Tagungsbesucher, die ihre oder fremde Frauen in sauberen Hotelzimmern auf eine besonders ergiebige Weise beschliefen; er selbst hatte mit Birga, und auch mit Cécile, viele Hotelnächte hinter sich gebracht, er wußte, welche Steigerung es bedeutete, sich mit einer Frau nach dem Entkleiden in einem neuen Spiegel zu sehen, neue Betten zu spüren und sich am Morgen das Frühstück ans Bett bringen zu lassen; ja, er hatte das Frühstück immer im Zimmer eingenommen, wenn er mit Birga oder Cécile auswärts genächtigt hatte, er hatte sich geweidet an der Schüchternheit der Serviermädchen, wenn sie ins Zimmer getreten waren, in dem er gerade noch geliebt hatte: aber er hätte es nie über sich gebracht, seine Frau oder Cécile so kurz nach dem Aufstehen den Blicken der anderen Hotelgäste im Frühstückssaal vorzuwerfen und selbst die matten Bewegungen mit anzusehen, mit denen sie die Frühstücksbrötchen strichen.
     In seinen frühen Studentenjahren hatte er es nicht einmal über sich gebracht, mit einem Mädchen in ein Hotel zu gehen. Die Vorstellung, in einem Haus zu übernachten, in dem sich in fünfzig oder zweihundertfünfzig Zimmern der gleiche Akt vollzog, begleitet von wahrscheinlich den gleichen Bewegungen und Redensarten und sicher auch nicht sehr unterschiedlichen Gefühlen, diese Vorstellung hatte ihm damals Brechreiz verursacht. Aber allmählich hatte er sich mit der Tatsache abgefunden, daß er ein Mensch war wie alle anderen, daß er zu den gleichen Handlungen gezwungen war wie alle anderen, daß es nichts nützte, sich etwas vorzumachen; er hatte – und das war ihm schwer genug gefallen – lernen müssen, alles was er tat, im Bewußtsein zu tun, daß es im gleichen Augenblick hundert Millionen andere genauso taten. Er hatte sich an die großen Zahlen gewöhnen müssen.
     Früher war er sehr empfindlich gewesen allen öffentlichen Bekenntnissen gegenüber, die sich auf die Nachtseite des Menschen bezogen. Aber sein Studium hatte ihn dann täglich gezwungen, in Gemeinschaft mit anderen, diese Nachtseite zu erfahren, ihr gegenüberzustehen als einer Sache, die sich nicht unterschied von anderen Sachen. Und allmählich hatte er es gelernt. Heute brüstete er sich sogar da und dort mit seiner Kaltblütigkeit und liebte es, so zu formulieren, daß seine Zuschauer erröteten. Er erinnerte sich an das Sommerfest bei Volkmanns, an den jungen Journalisten, dem er arg zugesetzt hatte mit der medizinisch-metaphorischen Privatdiktion, die er zu seinem und seiner fortgeschritteneren Zuhörer Spaß ausgebildet hatte. Wenn er so verwegen in eine Tischrunde hineinformulierte – es mußten natürlich Leute sein, die er zumindest dem Namen nach kannte –, wenn er seine Sätze ritt wie ein Husar sein Pferd, dann

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