Ehre sei dem Vater (German Edition)
nicht sehr wählerisch
im Umgang mit den Medien. Obwohl sie nicht alles für wahr hielt, was
geschrieben wurde, nahm sie die Texte zumeist unkritisch auf. In den letzten
Tagen hatte sie verzweifelt versucht, sich durch Lesen abzulenken, doch es
funktionierte nicht. Nicht nur, dass wenig Erfreuliches in den Tageszeitungen
zu finden war, sie konnte noch nicht einmal aufnehmen, was überhaupt in den diversen
Blättern geschrieben stand. Ab und zu bemühte sie sich, die eine oder andere
Schlagzeile ein zweites Mal zu lesen, doch selbst dann wollte sich nichts
einprägen. Fortwährend drängte sich die Angst um ihren Mann in den Vordergrund.
Immer wieder spürte sie einen riesigen Kloß im Hals, während sie damit kämpfte,
die Tränen einigermaßen im Zaum zu halten. „Wenn er sich etwas angetan hätte,
würde er dann nicht wollen, dass wir alle wissen warum? Hätte er dann nicht
einen Abschiedsbrief hinterlassen?“ Unmengen von offensichtlichen
Ungereimtheiten gingen ihr durch den Kopf. Der Hund lag mit schläfrigem Blick
zusammengekauert zu ihren Füßen. Ihm schien sein Herrl mindestens genauso sehr zu fehlen wie ihr selbst. Immer wieder suchte er nach
Franz und legte sich mehrmals täglich leise winselnd wartend vor sein Bett. Warum
hatte er Ronny zurückgelassen? Der Hund klebte sonst doch dauernd an seinen
Fersen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er den Schäferhund absichtlich
zurückgelassen hätte. Es sei denn, jemand hätte ihm Gewalt angetan…… .
Barbara betrat den Raum. Sie hatte die morgendliche
Stallarbeit bereits hinter sich gebracht und stand nun frisch gewaschen aber
sichtlich erschöpft mit verschwollenen Lidern vor ihr. „Ich habe heute Nacht
kein Auge zugetan“, sagte sie wie nebenbei, als sie die Kaffeekanne mit Wasser befüllte . Normalerweise war Anna zuständig für das
Frühstück, aber was war in dieser Familie zurzeit schon normal. Träge erhob
sich Anna aus ihrem Sessel, um ihrer Tochter zu helfen. „Glaubst du im Ernst,
dass sein Verschwinden etwas mit dem Mann aus Esslingen zu tun haben könnte?“
fragte Anna nun schon zum wiederholten Male. „Ich weiß auch nicht Mutter, aber
die Polizei glaubt das und außerdem ist es zurzeit der einzige Strohhalm.
Vielleicht ist er mit ihm gemeinsam weggefahren und taucht jeden Moment wieder
zu Hause auf.“ Anna wusste, dass Barbara nicht hundertprozentig die Wahrheit sagte.
Sie wollte das glauben. Schließlich
hatte sie selbst mit ihrem Gewissen schwer zu kämpfen. Der unsinnige Streit
wegen Julian hatte Franz schlimm zugesetzt und Barbara wusste nur zu gut, wie
nachtragend ihr Vater sein konnte. Anfangs hatte Anna selbst die Variante, dass
er seiner Tochter einen Denkzettel verpassen wollte, am ehesten in Betracht
gezogen. Aber je länger sein Verschwinden andauerte, desto weniger glaubte sie
daran. Es würde ihm wohl ähnlich sehen, sich eine ganze Nacht lang nicht blicken
zu lassen, um seine Familie zum Umdenken zu bewegen, aber gleich fünf Tage –
nein, das hielt sie nicht für möglich. Die Gendarmen hatten gefragt, ob
Kleidung aus dem Schrank fehlte. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Er
besaß viele sehr ähnliche Hemden und Hosen, weil er sich kaum einmal von einem
guten Stück trennen konnte. Selbst wenn die Sachen bereits mehrfach geflickt
waren, wurden sie sorgsam aufgehoben. Aber wenn er etwas mitgenommen hätte,
konnte es nicht viel gewesen sein und einen Koffer oder eine Reisetasche
vermisste sie mit Sicherheit nicht.
Während Anna die Frühstücksbrote dick mit
Butter beschmierte, spielte sie im Gedanken den vergangenen Samstag ein
weiteres Mal durch. Sie waren gemeinsam wie immer um 7.30 Uhr aufgestanden. Anna
hatte das Frühstück zubereitet, während er sich noch einige Zeit im Bad
aufgehalten hatte. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Er brauchte morgens immer
etwas länger, um seine Prothese richtig zu befestigen und dabei wollte er keine
Zuschauer. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass er an diesem Morgen besonders schlecht gelaunt gewesen wäre.
Viel wurde am Frühstückstisch ohnehin nie gesprochen und seit der
Auseinandersetzung mit Barbara war es noch ein bisschen ruhiger geworden. Anna
war sicher, dass er sich schon wieder einkriegen würde, wenn nur einiges Gras
über die Sache gewachsen wäre. Barbara war nicht unversöhnlich. Sie tat viel
eher so, als wäre gar nichts geschehen. Obwohl er sich gewünscht hätte, dass
sie sich reumütig bei ihm entschuldigen sollte. Gleichzeitig musste er
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