Ehre sei dem Vater (German Edition)
beschützend auf das Geschehen im
Tal zu blicken schien. Am Morgen galt ihr erster Blick aus dem Fenster dem über
2.300 Meter hohen Felsblock, und wenn sie ihn bei Schönwetter herrlich
beleuchtet sah, blickte sie dem kommenden Tag in positiver Hochstimmung
entgegen. Verena war schon immer ein sehr positiver Mensch gewesen und ihre
Fröhlichkeit wirkte ansteckend auf alle, die mit ihr zu tun hatten - oder zumindest
auf fast alle. Ihre Tochter Marie konnte der Ausstrahlung ihrer Mutter leider
nichts abgewinnen. So sehr sich Verena auch bemühte, sie kam nicht an sie
heran.
Im Gedanken an Marie ließ sie die Landschaft
an sich vorüberziehen, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie
merkte kaum, wie der Nebel sich immer schwerer auf die Landschaft senkte und
die Fahrt bei weitem nicht mehr so zügig voranging. Sie wollte einfach nur
raus, für ein Wochenende ihre Sorgen rund um ihre Tochter und um ihr nicht ganz
einfaches Liebesleben vergessen.
Ihre Mutter hatte ausnahmsweise keine
Schwierigkeiten gemacht, als sie ihr mitteilte, dass sie unbedingt eine Auszeit
brauche und zwei Tage bei Julian in Graz verbringen möchte. Nachdem Eveline
Bach in der Vorwoche eine gelungene Vernissage hinter sich gebracht hatte, kam
ihr eine gemeinsame Zeit mit der Enkelin sehr gelegen. Sie hatte nie
Schwierigkeiten mit Marie zurechtzukommen. Wenn die beiden im Atelier mit
Farben experimentierten und dabei herumalberten, dass man sie schon von Weitem
hören konnte, rief das bei Verena regelmäßig ein drückendes Gefühl in der
Magengegend aus. Erstens hatte ihre Mutter sich nie auch nur annähernd so viel
Zeit für ihre eigene Tochter genommen, weil immer irgendwelche Aufträge
wichtiger waren als ihre gemeinsamen Unternehmungen. Das „Zweitens“ verletzte
sie aber noch viel mehr…. . „Aber egal“, versuchte sie die trüben Gedanken so
rasch als möglich wegzuwischen. „Ich mache mir jetzt ein wunderschönes
Wochenende bei meinem allerbesten Freund, wir werden über Gott und die Welt
plaudern, uns über die schlechtesten Witze amüsieren und die alten Zeiten
wieder hochleben lassen. Das wirkt besser als jede Schönheitsfarm - ich werde
Sonntagabend als neuer Mensch nach Hause fahren!“
Sie hatte inzwischen Graz erreicht und
kämpfte sich durch den lebhaften Stadtverkehr. Der Anblick der vermummten
Fußgänger auf den Gehsteigen, die versuchten, dem von den Fenstersimsen
tropfenden Wasser auszuweichen, ließ ihre plötzlich aufgekommene Vorfreude ein
bisschen verblassen. Sie hatte ganz vergessen, wie kalt und trostlos diese
Stadt im Winter sein konnte. In solchen Momenten konnte sie Julians Sehnsucht
nach der Heimat im Ennstal viel besser verstehen. Obwohl sich für Verena -
einmal abgesehen vom Wetter in den Wintermonaten - ein Leben in der Stadt als
sehr verheißungsvoll darstellte. Sie dachte dabei vor allem an Einkaufsbummel
in der Herrengasse mit anschließenden Kaffeehausbesuchen oder an die vielen
kulturellen Veranstaltungen, die sie gemeinsam mit einem geliebten Menschen
besuchen könnte. „Sch….! Heute will’s aber wirklich einfach nicht klappen mit
meiner positiven Selbstmotivation! Warum kann mein Leben nicht ablaufen, wie
bei anderen Menschen auch: einfach, problemlos, harmonisch… und langweilig! Nein,
in Wirklichkeit läuft es doch ganz toll bei mir. Jawohl. Ohne meine Problemchen wäre ich heute nicht in Graz. Ich würde mir
heute Abend keine „Spaghetti alla Casa“ bei Julians Lieblingsitaliener hineinziehen
können und selbst der herrliche Chianti, der praktisch dazugehört, bliebe mir
verwehrt. Wer weiß, vielleicht läuft mir heute Abend auch noch der Mann meines
Lebens über den Weg. Gottes Wege sind oft sonderbar und unergründlich, oder so
ähnlich… heißt es doch.“
Als sie in die Lagergasse einbog, sah sie auf
Nummer 20 bereits das Licht aus Julians Wohnung auf den Gehsteig fallen. In
seiner 70-m²-Wohnung schienen alle Lichter an zu sein und sie sah ihn kurz
durchs Fenster. Er war auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche. Verena konnte
sich gut vorstellen, wie er bereits zu nervös zum Sitzen war und minütlich auf die Uhr blickte, weil er sie ja schon vor
einer halben Stunde erwartet hatte. Sicher würde sie eine nicht enden wollende
Schimpftirade über sich ergehen lassen müssen, bevor er sie endlich fest
umarmte und herzlichst willkommen hieß.
Julian war in heller Aufregung. Als Verena ihn um 15.00 Uhr angerufen und
angekündigt hatte, dass sie heute zu ihm kommen würde, war
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