Ehre sei dem Vater (German Edition)
keinen weiteren Weg für sich sah, als freiwillig aus dem Leben zu
scheiden? Und wer sollte einen alten, behinderten Mann, der nicht besonders
wohlhabend war, töten? Nein, an Mord wollte er gar nicht erst denken.
Marie fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie wusste
nicht, wie lange sie geschlafen hatte, noch wovon sie wach geworden war. Hast du geträumt? Sie setzte sich in
ihrem Bett auf und lauschte. Die Stille wurde nur vom gleichmäßigen Schnurren
ihrer Katze unterbrochen. Das leise vertraute Geräusch hätte Marie eigentlich
beruhigen müssen. Sie strich dem Tier sanft über das weiche getigerte Fell. In
diesem Moment spürte sie wieder die jähe Anspannung. Sie stand auf und öffnete
das durch Jalousien verdunkelte Dachfenster, nur mit einem T-Shirt und einer
knappen Short bekleidet. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um einen Blick nach
draußen werfen zu können. Der Hof war verlassen, so wie sie ihn vorgefunden
hatte, als sie gekommen war. Sie lauschte. Stille. Das schlechte Gewissen trieb
ihr Schweißperlen auf die Stirn. „Und wenn mir jemand gefolgt ist?“ Sie bereute
zutiefst, auf ihre Freunde gehört zu haben. „Aber ich konnte gar nicht anders.
Ich musste beweisen, dass ich keine Weichbirne bin.“ Sie ließ den Abend noch
einmal vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Sie war mit Miriam und den Jungs wie
meistens am Nachmittag in ihrem Stammcafe abgehangen, als Marvin auf die Idee
kam, einmal etwas total Abgefahrenes zu unternehmen. „Das spießige Kaff gehört
einmal gehörig aufgemotzt, meint ihr nicht auch?“, sagte er und die anderen
hingen an seinen Lippen. „Gute Idee, Kumpel“, meinte Joe, „und wie willst du
das anstellen?“ - „Wofür haben wir denn eine Künstlerin unter uns?“, fragte er
und blinzelte in Maries Richtung. Sie reagierte nicht, weil sie überhaupt nicht
wusste, worauf er hinaus wollte. Bewusst lässig nahm er einen tiefen Zug aus
seiner Zigarette. „He Marie“, fuhr er fort „tönst du nicht immer groß, dass du
mit deiner Omidie tollsten
Kunstwerke auf die Leinwand bringst?“
„Was soll das blöde Gelaber? Sprich Klartext
mit mir“, entgegnete Marie leicht genervt. Miriam war inzwischen etwas näher zu
ihrer Freundin gerutscht und verfolgte nun aufmerksam die Unterhaltung. „Was
hast du vor?“, fragte sie neugierig in Marvins Richtung. „Ich hab da ein paar
total abgefahrene Farben in Spraydosen besorgt. Na klingelt’s ?“
Er quasselte dann noch irgendetwas von wegen unsterblich machen und dass die Clique
sich mit ihren ganz individuellen Zeichen in Irdning ein Denkmal setzen könnte.
Die Augen ihrer Freunde hatten nur so gestrahlt. „Endlich mal ein vernünftiger
Einfall“, pflichtete ihm einer der Jungs bei. Miriam warf in ihrer Naivität
ein, man könnte ja fragen, ob man eventuell vielleicht legal einige Mülltonnen
oder Hydranten verschönern könnte und erntete schallendes Gelächter, in welches
sie alsbald einstimmte, um nicht vollkommen bloßgestellt zu werden. Wieder
waren alle Augen auf Marie gerichtet. Sie hatte kein besonders gutes Gefühl
dabei, vor allem deshalb, weil sie anscheinend die hauptsächlich ausführende
Person sein sollte. Schlussendlich ließ sie sich aber doch von der Euphorie der
anderen anstecken.
Sie hatten die Dunkelheit abgewartet. Tagsüber
war es angenehm warm gewesen und nur wenige kleine Wolken hatten das
frühsommerliche Schönwetter getrübt. Nun fegte ein kühler Wind durch die
Straßen. Einige Jugendliche machten sich gerade auf den Weg ins Pub oder in die
Disco, als sich die fünf dunkel gekleideten Freunde, ausgerüstet mit ihren
schmuddeligen Rucksäcken, auf den Weg machten. Das Ortszentrum war hell
erleuchtet. Zu hell für ihren Geschmack und vor allem für ihr Vorhaben. Immer
wieder fuhren Autos an ihnen vorbei und nicht wenige davon suchten sich im
Zentrum des Ortes einen Parkplatz. Marie hatte das Gefühl, als wären durch
sämtliche Fenster und sogar aus den Auslagen der verwaisten Geschäftslokale
neugierige Augen auf sie gerichtet. „Ich glaube, das Ganze ist keine besonders
gute Idee“, sagte sie. „Hier können wir jederzeit erwischt werden. Alle paar Sekunden
kreuzt jemand auf. Wir verziehen uns besser und verschieben die Sache auf ein
andermal.“
„Da hat wohl jemand gehörig Muffensausen,
was?“ Marvin grinste breit und drückte die Spitzen von Ringfinger, Zeigefinger
und Daumen seiner rechten Hand zittrig aneinander, um seine Bemerkung noch zu
unterstreichen. Er hatte längst die Rolle des
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