Ehre sei dem Vater (German Edition)
mich
interessieren, aber Gemeinsamkeiten sind doch sehr viel wichtiger als
oberflächliche Äußerlichkeiten“, bestätigte sie sich selbst. Sie freute sich darauf,
ihm eines Tages ihre eigenen Gedichte vortragen zu können.
Kurz entschlossen, lenkte sie ihre Schritte
in Richtung Schloss Pichlarn . Die von schicken
Einfamilienhäusern gesäumte Straße war inzwischen schneefrei und der Schotter löste
ein gleichmäßig knirschendes Geräusch unter ihren raschen Schritten aus. Kurz
nach dem Ende der Häuserreihen bog sie wie selbstverständlich nach rechts auf
einen schmalen Forstweg ein. Hier hatten in diesem Winter noch keine
Schneeräumgeräte ihre Arbeit verrichtet, doch der ausgetretene Pfad führte Eva
unweigerlich zu ihrem Ziel. Sie steuerte auf ihren vertrauten, nur Insidern
bekannten Rastplatz auf einer kleinen Anhöhe zu. Ein mächtiger, quer liegender
Baumstamm war hier vor langer Zeit zu einer urigen Bank umfunktioniert worden. Abgesehen
von den einzelnen Häusern im Vordergrund, die allesamt in leichter Hanglage vor
ihr standen, erblickte sie bei schönem Wetter das ganze Tal vor dem mächtigen
Hintergrund des Grimmings .
Die meisten Fotos in ihrer Wohnung oder auf
ihrem Computer wurden von hier aus geschossen. Dieser Ort war der Grund für die
Anschaffung von immer besseren Kameras mit immer stärkeren Zoomfaktoren. Von hier
aus sah sie nicht nur sehr viel von der wundervollen Landschaft ihrer Heimat,
sondern vor allem hatte sie einen herrlichen Blick auf sein Zuhause. Unzählige Male hatte sie schon stundenlang hier
gesessen, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Heute verriet ihr aber ein
Seitenblick auf den Baumstamm, dass der Nachmittag nicht allzu gemütlich werden
würde. Denn selbst vom frischen Schnee befreit, würde er noch immer nass und
kalt und auf keinen Fall als komfortabler Sitzplatz geeignet sein. Aber egal,
es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie längere Zeit hier stehend
verbracht hatte. Sie könnte auch auf der Stelle springen oder einige Runden um
den Baumstamm drehen. Wenigstens war es hier windstill und sie wurde nicht
durch Spaziergänger gestört. Früher oder später würde er bestimmt vor seinem
Haus auftauchen. Die Frage war nur: Wann?
Der Abend beim Italiener am Grazer Hauptplatz
hatte die Gemüter wieder beruhigt. Beinahe wie ein Liebespaar saßen Verena und
Julian bei Kerzenschein, mit Blick auf den Eingang, in einer verträumten Ecke
am rechten hinteren Ende des Lokals. Die Kellner waren wie immer sehr
zuvorkommend und der Koch hatte sich bei den neuesten Nudelvariationen wieder
einmal selbst übertroffen. Und wer kam bei einem hervorragenden Glas Chianti aus
der Toskana nicht auf angenehmere Gedanken?
Verena mochte es nie besonders, wenn man
versuchte sie zu belehren. Vor allem, wenn sie spürte, dass ihr Gegenüber nicht
ganz unrecht hatte. Ihr war auch klar, dass es mit ihrer Tochter so wie bisher
nicht weitergehen konnte. Die Unterhaltungen mit Julian trugen trotz allem
enthaltenen Sprengstoff zumindest dazu bei, dass Verena ihr eigenes Verhalten
ein bisschen kritischer betrachtete. Zumal sie dazu neigte, Dinge von sich weg
zu schieben, bis der sprichwörtliche Topf überquoll.
„Wie geht’s zu Hause? Hast du wieder einmal etwas von Eva gehört? Die meldet
sich praktisch überhaupt nicht mehr bei mir.“ Verena machte einen tiefen Zug
aus ihrer Zigarette und hauchte langsam und genüsslich kleine Ringe in die
Luft. Der Gedanke an ihre gemeinsame Freundin zauberte ein schelmisches Lächeln
in ihre Züge. „Eva wird immer seltsamer“, sagte sie und machte nach diesen
Worten eine lange Gedankenpause, sodass Julian wohl oder übel wieder das Wort
ergreifen musste. „Ich finde ihre Gedichtschreiberei echt gut. Sicher, sie ist
sehr melancholisch, aber das passt perfekt zu ihrer Persönlichkeit. Eva und
lustige Verse, das wäre so wie Otto Waalkes als
Nachrichtensprecher. Ist doch wirklich schön, wenn sich Gedanken auf die Reise machen , wie unsere Freundin das gerne
bezeichnet.“
„Nicht, wenn sie unterwegs die Orientierung
verlieren und in unergründliche Richtungen fliehen!“. Sie musste selbst lächeln
bei dieser Definition. Nein, im Ernst, sie ist zurzeit richtig durchgeknallt und es sieht nicht danach aus, als ob sich dieser
Trend in absehbarer Zeit ändern würde“.
Julian wusste, dass Eva schon immer ein
bisschen sonderbar war. Sie hatte mit ihren 34 Jahren - von einigen kurzen
Liebschaften einmal abgesehen - noch nie eine richtige
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