Ehre sei dem Vater (German Edition)
gewählt war, aber es war nun mal
passiert und keiner konnte die Zeit wieder zurückdrehen.
Der Hauptgrund für seine damalige Übersiedlung
zu Eva war der Wunsch gewesen, endlich selbstständig zu leben und nicht dauernd
unter Beobachtung seiner Eltern zu stehen. Jetzt, da er seine Heimat endgültig
hinter sich gelassen hatte, hatte er zwar das Ziel von damals erreicht, war
aber unglücklicher als je zuvor.
Er verbrachte zwar nach wie vor ab und zu ein
Wochenende bei Eva, musste dabei aber immer auf der Hut sein, seinem Vater
nicht zufällig über den Weg zu laufen. Zwar nutzte er diese Wochenenden auch
dazu, heimlich seine Schwester Barbara oder seine Mutter zu sehen, aber für
längere Zeit bei Eva zu bleiben wäre für ihn äußerst unangenehm gewesen. Zudem
war in der Zwischenzeit Evas Bruder David bei ihr eingezogen. Für Eva hieß das,
wieder einmal die Mutterrolle zu übernehmen. Hätte Julian seine letzten
Gedanken betreffend David laut ausgesprochen, würde Verena damit einen
neuerlichen Grund vorbringen können, dass Eva dringend Unterstützung brauchte.
Dabei wusste Verena mit Sicherheit, dass ihr
Vorschlag Salz für seine Wunden sein würde. Es gab Tage, an denen solche
Rücksichtslosigkeiten an ihm richtiggehend abprallten (vor allem, da Verena so
gut wie nie „ Glacéhandschuhe “ trug), heute ärgerte er
sich ein wenig darüber.
„Du weißt doch“, sagte er schließlich etwas
lauter als gewöhnlich, „dass das nicht mehr so leicht geht. Ich habe meine
Arbeit und mein Privatleben komplett nach Graz verlegt. Und du willst doch
nicht ernsthaft von mir verlangen, dass ich meinen gesamten Urlaub in einer
Gegend verbringe, wo ich nicht willkommen bin. Außerdem ist ja gar nicht
gesagt, ob mich Eva überhaupt bei sich haben will.“
„Blödsinn, du weißt so gut wie ich, dass sie
deinen Wunsch, einige Zeit bei ihr zu wohnen, nie abschlagen würde. Sie hat
schließlich genügend Platz! Bitte bedenke, dass sie wirklich in Schwierigkeiten
ist, auch wenn sie es niemals zugeben würde! Ich konnte noch nie so auf sie
einwirken wie du. Sie hält große Stücke auf dich. Bitte, versuch es wenigstens!“
Julian war nicht überzeugt. Er hasste es,
sich so beeinflussen zu lassen. Verena war perfekt in diesen Dingen.
Marie Bach lag auf der roten Couch im
Wohnzimmer und starrte an die Decke. Eigentlich wollte sie die Zeit, da ihre
Mutter nicht zu Hause war, wieder einmal so richtig genießen. Endlich musste
sie für ein paar Tage ihre nörgelnden Blicke nicht ertragen. Sie konnte direkt
körperlich spüren, wenn ihrer Alten wieder irgendwas an ihr nicht passte. Meistens
ging sie, wenn ihre Mutter einen Raum betrat, weil sie keinen Bock drauf hatte,
sich mit ihr zu unterhalten. Erfahrungsgemäß drehten sich diese Unterhaltungen
sowieso nur um ihre „unmögliche“ Kleidung, oder Verena würde sich wieder über Maries hübsches Gesicht unter der
schrecklichen Schmierage ereifern. Nein danke – kein Bedarf!
Sie konnte heute nicht mehr genau sagen, seit
wann sie diesen abgrundtiefen Hass gegenüber ihrer Mutter verspürte. Tatsache
war, dass ihre Abwehrhaltung in den letzten Jahren kontinuierlich immer stärker
geworden war. Anfangs hatte Marie noch ein wenig dagegen angekämpft, doch mit
der Zeit hatte sie sich ganz einfach daran gewöhnt. Wenn Freunde von ihr zu
Besuch waren und die Alte „eigentlich recht nett“ fanden, wurde ihre eigene
Abneigung gegen sie nur noch verstärkt. Immer musste sie sich in den
Vordergrund spielen, immer einen auf fröhlich und unbeschwert machen, wobei sie
nicht den leisesten Schimmer von schlechtem Gewissen darüber zu verspüren
schien, dass sie das Leben ihrer Tochter kaputt gemacht hatte. Wieder einmal
verspürte sie die wohlbekannte Leere in ihrem Inneren. Der Parkettboden knarrte
unter ihren Füßen, als sie aufstand, um sich barfuß auf den Weg in die Küche zu
machen. Ansonsten war kein Laut zu hören. Es war ja auch schon halb elf Uhr
abends und ihre Großmutter war bereits vor einer Stunde zu Bett gegangen. Sie
bewohnte das Erdgeschoss des Hauses und hatte sich nach einer ausgiebigen
Partie Trivial Pursuit wieder in ihre „Vier Wände“
zurückgezogen.
Die Küche war Maries Zufluchtsort - ein Platz,
an dem sie sich geborgen fühlte. Früher, als ihr Vater sie noch häufig
besuchte, hatten sie oft gemeinsam hier gesessen. Verena hatte sich dann immer
ganz schnell aus dem Staub gemacht. Marco hatte meistens irgendwas Leckeres zum
Essen für seine Tochter mit. Am
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