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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Kirchenglocken aus dem Dorf im Nachbartal kam nicht gegen sie an.
    Verwundert stellte Jorges fest, dass das Dröhnen immer lauter wurde. Sie mussten ihre Arbeit unterbrechen. Der Lärm war nicht zum Aushalten. Er musste sich konzentrieren. Am Wochenende wollte er auf dem Marktplatz von Piatra Neamt zeigen, was er seit seiner Rückkehr nach Rumäniengelernt hatte. Nicht weniger als sieben Bälle wollte er gleichzeitig in der Luft halten. Die Menschen am Fuß der Ostkarpaten waren Gaukler gewohnt. Aber wahre Artisten sahen sie nur selten. Artisten wie Jorges, den Deutschen.
    Er selbst hatte die Plakate, die seinen Auftritt ankündigten, überall in der Stadt aufgehängt. Aber er musste noch üben. Der siebte Ball entglitt immer wieder seinen geschickten Händen. Jorges versuchte, sich zu konzentrieren, aber das Hämmern wurde immer lauter.
    Er sehnte sich auf die mit wilden Blumen bewachsenen Wiesen entlang der Bistrita, an deren linkem Ufer Piatra Neamt lag. Die Menschen schlenderten sonntags gerne den schmalen Fußweg entlang. Am Sonnabend würde er seine Künste mitten in der Stadt zeigen. Und sonntags wollte er runter zum Fluss gehen, wo sich seine Mütze schnell mit Münzen füllen würde. So einen wie ihn hatten sie noch nicht in ihrer Stadt gesehen: sieben Bälle! Das konnte nur er, Jorges, der Deutsche.
    Die Männer hatten aufgehört zu hämmern. Einer rief seinen Namen. Es klang ungeduldig. Jorges legte seine Bälle auf den Boden und rief den beiden Arbeitern etwas zu. Doch sie hörten ihn nicht, schauten noch nicht einmal hoch. Es war eine andere Stimme, die ihn rief. Verwundert registrierte Jorges, dass man sogar seinen Vornamen kannte.
    «Marlon-Joël Jorges!»
    Niemand in Rumänien nannte ihn so. Sie riefen ihn alle Jorges. Wer hatte schon Lust, sich die Zunge zu brechen und diesen lächerlichen Vornamen auszusprechen, mit dem seine Mutter damals aller Welt zeigen wollte, dass ihr Baby etwas ganz Besonderes war.
    «Öffnen Sie die Tür. Wir wissen, dass Sie da drinnen sind.»
    Jorges schlug die Augen auf. Er meinte noch den kühlen Wind auf seiner Haut zu spüren, der im Herbst von den Hängen der Ostkarpaten in die Täler wehte. Ihm war kalt. Aber er war nicht in Rumänien, und er musste auch nicht das Jonglieren mit sieben Bällen üben. Das Schlafzimmerfenster stand auf kipp, und seine Decke lag halb auf dem Boden. Jemand hämmerte mit den Fäusten gegen die Haustür. Unwillig quälte sich Jorges aus dem Bett. Vermutlich wollte der Typ zu Carola aus der Nachbarwohnung. Ständig hatte sie Ärger mit ihren Kerlen. Wenn sie nicht öffnete, trommelten ihre Liebhaber manchmal gegen seine Tür. Aber verdammt, er wusste auch nicht, wo sich Carola mal wieder herumtrieb. Mit einem Ruck riss er die Wohnungstür auf.
    «Was gibt es?», fragte Jorges müde.
    «Sind Sie Marlon-Joël Jorges?»
    Die Stimme gefiel Jorges nicht. Streng klang sie und autoritär. Die beiden Fremden wollten nicht zu Carola, sie wollten zu ihm. Der Mann trug eine kurze Jacke und dunkle Jeans. Er hatte nur nach seinem Namen gefragt, aber Jorges hatte sofort das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
    «Was wollen Sie von ihm?», fragte er vorsichtig.
    «Sind Sie ein Bekannter von Herrn Jorges?», mischte sich nun der zweite Mann ein.
    In dem Moment polterte der Nachbarjunge die Treppe hinunter und warf alle paar Meter seinen Basketball gegen die Wand im Treppenhaus. Geschickt fing er ihn jedes Mal wieder auf. Als er die drei Männer im Hausflur stehen sah, stutzte er. Der Ball prallte von der Wand ab, schleuderte gegen das Geländer und flog auf den seltsamen Besucher zu, der Jorges nach seinem Namen gefragt hatte. Reflexartig riss der Mann die Arme hoch und fing den Basketball auf. Dabeihob sich seine Jacke um ein paar Zentimeter. Erschrocken erkannte Jorges, dass der Fremde eine Waffe trug.
    Instinktiv wollte er die Tür zuschlagen. Doch der Mann war schneller und stellte seinen Fuß dazwischen. Bevor Jorges seine aufkommende Panik spüren konnte, lag er schon am Boden. Jemand drehte ihm die Arme auf den Rücken. Dann hörte er es klicken. Grob riss ihn der zweite Mann nach oben.
    «Schnell, Daniel», rief Jorges dem verdutzten Jungen im Hausflur zu. «Hol die Polizei!»
    «Nicht nötig. Wir sind von der Polizei», erwiderte der erste Mann und holte seinen Ausweis hervor.
    «Was soll das?» Jorges ärgerte sich über das Zittern in seiner Stimme. Mit der rumänischen Polizei kam man am besten nie in Kontakt und wenn, dann nur, wenn man

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