Ehrenhüter
entschuldigt.
Steenhoff musterte den in seinem Einmalanzug schwitzenden Marlowski. «Ich weiß gar nicht, was du hast. Bei so herrlichem Wetter draußen arbeiten zu dürfen. Darum würden dich viele im Präsidium beneiden», sagte er ironisch. Dann wurde er wieder ernst. Er schob sich an Marlowski vorbei und betrachtete den Leichnam. Ohne Zweifel handelte es sich um eine junge Frau, vielleicht sogar um eine Jugendliche. Zumindest schloss er das aus der zierlichen Statur der Unbekannten und ihrer Kleidung. Die Tote hatte halblange schwarze Haare. Ihr Körper lag auf dem Bauch. Das Gesicht war in die feuchte, dunkle Erde gedrückt und kaum noch zu erkennen. Marder und Vögel hatten das Fleisch an ihrer linken Hand weggefressen. Am rechten Bein war die Hose etwas hochgeschoben. Schrumpelige, helle Waschhaut kam zum Vorschein, die sich an einer Stelle bereits leicht ablöste. Steenhoff schätzte, dass das Opfer bereits mehrere Tage an dem Fundort lag.
«Kannst du schon etwas sagen über die Todesursache?», wandte er sich an Bernd Brückner, der gerade seine Einmalhandschuhe auszog.
Brückner zuckte mit den Achseln. «Natürlich nichts Endgültiges, aber zumindest kann ich schon jetzt sagen, dass ihr Genick gebrochen ist. Weitere Verletzungen sind so nicht zu erkennen. Ich weiß mehr, wenn ich sie obduziert habe.»
«Und seit wann liegt sie hier?»
«Ich denke, ein paar Tage. Ihre Bauchhaut hat sich von den Bakterien im Magen bereits grün verfärbt, und die Leichenflecken sind nicht mehr wegzudrücken.»
«Habt ihr Hinweise, dass der Fundort auch der Tatort war?», wollte Wessel wissen.
«Das können wir ausschließen», antwortete Marlowski. «Auf dem Weg hierher hätten euch eigentlich auf den letzten Metern Schleifspuren auffallen müssen. Aber wahrscheinlich hattet ihr eher Augen für die schöne Aussicht als für den Boden.»
«Okay, Winnetou, dann zeig doch mal, was ihr für Spuren gefunden habt», erwiderte Wessel spöttisch.
Marlowski warf ihm einen zornigen Blick zu und ging ein paar Schritte auf dem markierten Pfad in Richtung Deich. «Hier seht ihr die Fußabdrücke des mutmaßlichen Täters. Sie gehen mehrere Zentimeter tief in den Boden. Wir haben sie schon ausgegossen.» Er schob die drei Ermittler unsanft beiseite und näherte sich wieder der Leiche. «Und hier seht ihr dieselben Abdrücke nochmal im Boden. Diesmal deutlich weniger tief. Außerdem befinden sich an den Schuhen des Opfers Erdreste. Vermutlich hat er die Leiche bis hierher getragen. Dann wurde sie ihm zu schwer, und er hat sie die letzten 15 Meter über den Boden geschleift.»
Navideh Petersen runzelte die Stirn. Es kostete sie sichtbar Überwindung, den knurrigen Kollegen anzusprechen: «Aber warum hat er sie nicht einfach abgelegt, als sie ihm zu schwer wurde? Das macht doch keinen Unterschied, ob er die Leiche hier zurücklässt oder 15 Meter näher am Deich.»
Über Marlowskis Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns. «Bravo. Gute Frage. Ich sehe, die Oberkommissarin denkt mit. Aber die Antwort müsst ihr finden. Das ist euer Job.»
«Wie alt schätzt du das Opfer, Bernd?», wandte sich Navideh an den Rechtsmediziner, der direkt neben Marlowski stand.
«Zwischen 14 und 20, vermute ich.» Brückner warf einenBlick auf das Gesicht der jungen Frau, das der Tod so furchtbar entstellt hatte. «Älter wird sie kaum sein.»
Navideh holte ihr Handy heraus, ging ein paar Schritte abseits und wählte die Nummer des Vermisstensachbearbeiters. Süßlicher Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase. Sie musste gegen einen heftigen Würgreiz ankämpfen und suchte noch ein paar Meter mehr Abstand, während sie mit ihrem Kollegen telefonierte. Kurz darauf stand sie wieder neben Steenhoff und Marlowski. Die beiden schienen gegen den Leichengeruch völlig unempfindlich zu sein.
Erwartungsvoll sah Steenhoff sie an. Aber Petersen schüttelte den Kopf. «Es ist niemand als vermisst gemeldet, auf den die Beschreibung passt.»
Steenhoff holte ein Paar Einmalhandschuhe heraus, zog sie über und ging vor der Leiche in die Hocke. Der Arm lag in einer kleinen Bodenvertiefung. Behutsam hob er die linke Hand der Frau an. Sie trug eine Uhr mit einer goldenen Einfassung. Der Zeiger war um zwei Uhr stehengeblieben.
«Vermutlich hat es in der Nacht, als sie hierhergebracht wurde, geregnet», hörte er Marlowski hinter sich sagen. «Die Hand mit der Uhr lag in der feuchten Erde oder in einer kleinen Pfütze.»
Steenhoff entgegnete nichts.
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