Ehrenhüter
noch eine …» Besma Cetin suchte nach dem richtigen Wort. «Eine Arbeitsgemeinschaft an der Schule.»
«Was für eine Arbeitsgemeinschaft?»
«Ich weiß nicht.»
«Wann kommt sie wieder?»
«Spät.» Ruckartig stand die Frau auf und nahm ihrer Tochter, die mit einem Tablett ins Zimmer kam, die Gläser und das Zuckerdöschen ab. Sanft, aber bestimmt schob sie das Mädchen wieder aus dem Raum. Dann goss sie den Besuchern den dampfenden Tee ein. «Bitte, nehmen Sie.»
Navideh bedankte sich und nutzte die plötzlich eintretende Stille, um sich im Wohnzimmer umzusehen. Der Raum wurde von der mächtigen Sitzgarnitur und einem großen Fernseher dominiert. Ihr fiel auf, dass in dem Wandschrank nicht nur sorgsam gerahmte Fotos der Familie standen, sondern auch mehrere Reihen von Büchern in türkischer und deutscher Sprache. Sie war während ihrer Zeit bei der Schutzpolizei in Gröpelingen schon in vielen arabischen und türkischen Familien aus einfachen Verhältnissen gewesen. Manche von ihnen besaßen nur ein Telefonbuch. Petersen hatte damals viele Frauen kennengelernt, die kaum zur Schule gegangen und als Analphabetinnen nach Deutschland gekommen waren. Nilgüns Familie schien anders zu sein. Dafür sprach schon, dass ihre älteste Tochter auf dem Gymnasium war. Navidehs Blick fiel auf die gerahmten arabischen Suren hinter sich.
«Sie sind gläubig, Frau Cetin?»
Navideh bemerkte, dass nicht nur die Frau, sondern auch Steenhoff sie verblüfft anschaute.
Besma Cetin schnalzte mit der Zunge und ordnete unwillkürlich die Haare unter ihrem Kopftuch. «Natürlich. Wir besuchen regelmäßig die Moschee.»
«Dann gehe ich davon aus, dass Sie uns auch nicht anlügen würden», sagte Navideh und fixierte die Frau streng.
Verlegen schaute die andere zu Boden und murmelte: «Natürlich nicht.» Im selben Moment war ein Geräusch an der Haustür zu hören. Erleichtert sprang Besma Cetin auf. Aber Steenhoff war schneller. «Bitte bleiben Sie sitzen.» Mit wenigen Schritten war er im Flur und begrüßte den überraschten Kemal Cetin. Hinter dem Mann stand ein Jugendlicher von vielleicht 17 oder 18 Jahren. Steenhoff hatte verhindern wollen, dass sich die Eltern auf Türkisch absprachen, was sie sagen und was sie weglassen wollten. Das hatte er durch sein Verhalten zwar erreicht, aber zugleich hatte er mit seiner schnellen Reaktion für eine feindselige Atmosphäre in der Wohnung gesorgt.
Steenhoff stellte Kemal Cetin dieselbe Frage wie seiner Frau.
«Nilgün ist nicht da», antwortete der Gemüsehändler, ohne zu zögern. «Sie ist auf Klassenfahrt.»
«Wie lange?»
«Noch die ganze nächste Woche.»
Besma Cetin sah betreten aus dem Fenster. Steenhoff setzte sich auf das Sofa und sah den Mann eindringlich an. «Ihre Frau hat uns gerade gesagt, Nilgün sei in einer Arbeitsgemeinschaft in der Schule. Ich frage mich, warum Sie beide uns belügen?»
Der Junge machte einen drohenden Schritt auf Steenhoff zu. Doch ein scharfes Wort seines Vaters genügte, und er ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Steenhoff holte eine durchsichtige Tüte mit dem goldenen Armreif und dem Ohrring aus der Innentasche seiner Lederjacke. Langsam zog er die Fundstücke heraus und legte sie auf den Wohnzimmertisch.
«Ist das der Schmuck Ihrer Tochter Nilgün?»
Hilflos blickte Besma Cetin von ihrem Mann zu denbeiden Beamten. Als Kemal Cetin nicht reagierte, sprang sie auf und nahm den Schmuck in die Hände. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während ihre Finger über den Armreif fuhren. «Wo haben Sie das her? Wo ist meine Tochter? Wo ist meine Nilgün?» Die Verzweiflung war echt.
Steenhoff suchte nach den richtigen Worten. Vergeblich. «Wir haben den Schmuck bei einem Mädchen gefunden, das seit mehreren Tagen tot auf einer Wiese in Farge lag. Sie hat halblange schwarze Haare und ist 1,65 Meter groß.»
Besma Cetin stieß einen schrillen Schrei aus. Zitternd rutschte sie von ihrem Stuhl auf die Knie, warf sich auf den Boden und schlug immer wieder mit dem Kopf auf. Bevor Petersen oder Steenhoff reagieren konnten, war der Sohn bei ihr. Auch die Tochter kam aus ihrem Zimmer geschossen, als sie das Wimmern der Mutter hörte.
Navideh ging in den Flur und bat den Notrufsprecher in der Einsatzzentrale der Feuerwehr, einen Notarzt zu schicken. Dann kehrte sie zurück zu der jammernden Frau und sprach leise auf sie ein.
Steenhoff beobachtete Nilgüns Vater. Der Mann schenkte seiner Frau und der heftig weinenden jüngsten Tochter
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