Ehrenhüter
was manche Kollegen als Navidehs Heimatland bezeichneten. Sie erwarteten wie selbstverständlich, dass sich Petersen dort auskannte. Aber sie hatte mit dem Iran abgeschlossen und war nie wieder dort gewesen, seit sie eines Nachts im Alter von neun Jahren von ihrer Muttergeweckt und schlaftrunken in ein wartendes Auto gedrängt worden war.
Ihre Flucht nach Deutschland hatte Tage gedauert, aber Navideh konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie die östliche Stadtgrenze von Teheran schon fast erreicht hatten, als sie entsetzt feststellte, dass die Mutter ihre Puppe nicht eingepackt hatte. Bitterlich fing sie an zu weinen, und ihr Vater wendete nach einem heftigen Wortwechsel mit der Mutter kurzerhand das Auto und fuhr zurück. Er stellte das Auto der Familie ein paar Straßen von ihrem Haus entfernt ab und verschwand unter dem zischenden Protest der Mutter in der Dunkelheit. Ein paar Minuten später stieg er mit ihrer Puppe im Arm wieder ein.
Der Vater war Navideh gegenüber später oft streng gewesen, aber für diesen Moment würde sie ihn immer lieben.
«Wollen wir losfahren?»
Steenhoffs Stimme riss Navideh aus ihren Gedanken. Sie nickte verlegen und zog die Autotür zu. Sie war dankbar, dass diesmal Steenhoff am Steuer saß. Denn die Begegnung mit Roman Rodewaldt ging ihr nicht aus dem Kopf. Der Junge war intelligent. Und als sie beide vor dem Poster in seinem Zimmer standen, hatte er dasselbe gesehen wie sie. Doch er hatte sich geweigert, die Wahrheit anzunehmen. Navideh hatte keinen Zweifel daran, dass er Nilgün liebte. Sie horchte in sich hinein. War es das richtige Wort? Sie meinte, noch etwas anderes als Liebe gespürt zu haben. So wie er das Bild des Mädchens angeschaut und ihr Gesicht zärtlich mit den Fingerspitzen berührt hatte, wirkte es, als verehrte Roman seine türkische Freundin geradezu.
Wann war sie das letzte Mal so geliebt worden? Navideh sah vor sich auf die Straße, ohne etwas wahrzunehmen. Hatte überhaupt ein Mensch sich jemals so auf sie eingelassen?Und hatte sie es jemals zugelassen? Marten, der smarte Jura-Student aus Bremen, war ihr Sprungbrett gewesen, um sich als junge Frau aus der Enge ihres Elternhauses zu befreien. Sie hatten geheiratet. Natürlich. Etwas anderes wäre für ihren Vater nicht denkbar gewesen. Immerhin hatte er großzügig darüber hinweggesehen, dass Marten Christ war. Aber einem Zusammenleben von Mann und Frau ohne Trauschein hätte er seine Zustimmung verweigert. So waren sie also zum Standesamt gegangen. Schon damals spürte Navideh, dass etwas daran falsch war. Aber sie hatte keine Erfahrung in Gefühlsdingen. Viele ihrer deutschen Freundinnen wechselten ständig ihre Beziehungen, eine Woche waren sie heiß verliebt und in der nächsten schon wieder desinteressiert. Andere ließen Navideh nicht nur an allen gefühlsmäßigen Details ihrer Eroberungen teilhaben, sondern nahmen ihre neuen Freunde auch gleich mit nach Hause. Dort wurden sie neugierig, aber eben meist sehr offen von den Müttern und Geschwistern begutachtet. Wenn Zweifel an der Treue, den Gefühlen oder dem Charakter des jeweils aktuellen Jungen aufkamen, diskutierten bei ihrer Hamburger Freundin Berrit beispielsweise nicht nur die Eltern, sondern auch die Schwestern mit.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Berrit von Anfang an über Liebesdinge sprach, hatte Navideh befremdet und zugleich angezogen. Eine derartige Offenheit wäre in ihrer Familie unvorstellbar gewesen. Ihr älterer Bruder Mahmud hatte sie seit der Pubertät heimlich überwacht. Einmal verprügelte er sogar einen Jungen, der es wagte, Navideh vor der Schule zu küssen. Danach hatte sie monatelang nicht mehr mit Mahmud gesprochen. Sie lernte, sich innerlich vor ihrem Bruder und ihren Eltern zu verstecken. Je weniger die Familie von ihr wusste, umso freier konnte sie sich bewegen.So waren ihre Eltern denn auch völlig überrascht, als sie von ihren Heiratsplänen mit Marten Petersen hörten. Marten hatte den großen Vorteil, dass er nicht wie ihre Familie in Hamburg, sondern in Bremen lebte und dort auch studierte. Navidehs Mutter brach es fast das Herz, als ihre Tochter eines Tages alle Kleider und Bücher in Kartons packte und in Martens geliehenen Transporter wuchtete. Aber natürlich fand sie es völlig normal, dass eine Frau ihrem Mann in seine Heimatstadt folgte.
Was sie nicht verstand, ja, was sie entsetzte, war die Tatsache, dass sich ihre Tochter Navideh wenig später bei der Bremer Polizei bewarb.
Navideh zuckte
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