Ehrenhüter
waren. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Er hatte schon das Licht im Büro ausgeschaltet, als er nochmal zu seinem Telefon ging. Die Beamtin vom Kriminaldauerdienst meldete sich sofort.
«Kannst du für mich rausfinden, wer in dem Haus Friesenstraße 48 wohnt? Du erreichst mich per Handy. Ich mach mich schon auf den Weg nach Hause.»
«Schon ist gut», antwortete die Beamtin lakonisch.
Steenhoff saß kaum im Auto, da meldete sie sich wieder. «Das ist ein Einfamilienhaus. Stefanie und Andreas Wagenknecht. Außerdem wohnen da noch ihre drei Kinder, Sara, Lennart und Rike.»
«Wie alt?»
«Die Eltern …»
«Nein, die Kinder.» Steenhoff unterbrach sie ungeduldig.
Die Beamtin zögerte. Gespannt wartete Steenhoff auf ihre Antwort. «Sara ist 19 Jahre alt, Lennart 16 und Rike zwölf.»
«Auf welche Schule geht der Junge?»
Die Beamtin lachte leise auf. «Das geben unsere Datenbanken noch nicht her, Frank. Wenn es ganz eilig ist, wecke ich die Eltern und frage sie, sonst musst du bis morgen früh warten, wenn die Bildungsbehörde wieder besetzt ist.»
Steenhoff dankte ihr und legte sein Handy auf den Beifahrersitz. Hinter der Landesgrenze schien er der einzige Mensch zu sein, der um diese Zeit noch unterwegs war. Er hatte gerade die Wümmebrücke passiert, als in seinem Lichtkegel ein Fuchs am Straßenrand auftauchte. Sofort trat er auf die Bremse. Für ein paar Sekunden kam sein Wagen ins Schleudern und geriet auf die gegenüberliegende Fahrbahn. Er steuerte dagegen. Nur um wenige Zentimeter verpasste er eine Birke am Straßenrand.
Er war schon drei Kilometer weitergefahren, als das Zittern kam. Aufgewühlt stoppte er an einer verwaisten Bushaltestelle und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte. Am Straßenrand standen ein paar Häuser. Ihre Fenster waren dunkel. Hinter den Gebäuden lagen nur Wiesen und Kuhweiden. Steenhoff wollte gerade wieder losfahren, als sein Handy erneut klingelte.
Die Beamtin aus dem Kriminaldauerdienst war dran. Ihre Stimme klang triumphierend. «Ich weiß jetzt, auf welche Schule Lennart Wagenknecht geht …» Sie legte eine rhetorische Pause ein, um die Spannung zu erhöhen.
«Los, spuck’s aus.»
«Lennart geht auf das Anna-Lühring-Gymnasium in Schwachhausen. Hat dieselbe Schule nicht auch euer türkisches Mädchen besucht?»
Steenhoff starrte auf die Straße vor sich. Wind war aufgekommen und wirbelte die ersten herbstlich gefärbten Blätter am Boden auf. Über die ruhig daliegende Straße huschte eine Katze. Als sie in Richtung des Autos schaute, blitzten ihre Augen im Scheinwerferlicht auf. Lautlos verschwand sie wieder in einem Gebüsch. Was hatte Osman von dem Jungen gewollt?
«Frank, bist du noch da?», meldete sich die Beamtin wieder zu Wort.
«Ruf um sieben Uhr bei der Familie an. Für den Jungen fällt der Unterricht aus. Er soll auf keinen Fall zur Schule gehen. Bitte ihn, ins Präsidium zu kommen.»
«Was soll ich den Eltern als Begründung sagen?»
Steenhoff zögerte. Sollte sie den Eltern sagen, dass der Junge in Gefahr schwebt? Noch hatte er nichts in der Hand. Es war eine Ahnung, ein Gefühl, mehr nicht.
«Ich muss ihren Sohn als Zeugen in einem Tötungsdelikt befragen.» Er überlegte kurz, dann fügte er hinzu: «Am besten, der Vater begleitet ihn.»
11
Am Samstagmorgen wachte Steenhoff nach wenigen Stunden Schlaf wie gerädert auf. Ihm war kalt. Er hörte Geschirr klappern und öffnete mühsam die Augen. Die Sofadecke war auf den Boden gerutscht. Ben hatte es sich darauf bequem gemacht. Als Steenhoff sich aufrichtete, hob der Hund den Kopf. Der Golden Retriever stand auf, streckte sich und sah Steenhoff erwartungsvoll an.
«He, gib mir meine Decke wieder», brummte Steenhoff und zog einmal kräftig. Mit einem Ruck wurde der Hund übers Parkett gezogen. Ben bellte freudig und wedeltemit dem Schwanz. Er liebte es, mit seinem Herrchen zu toben. Steenhoff erkannte zu spät, was Ben vorhatte. Er stöhnte auf. Nicht jetzt! Nicht nach so einer Nacht! Aber Ben sprang schon auf ihn zu. Als der ausgewachsene Hund auf ihm landete, wurde Steenhoff mit Wucht ins Sofa zurückgeworfen. Seine Schnauze war direkt über Steenhoffs Gesicht, und der Hund leckte ihm ungestüm über die Wange.
«Du erwartest jetzt aber nicht, dass ich dich auch noch küsse?»
Steenhoff linste durch Bens Vorderpfoten hindurch und sah, wie Ira mit zwei Bechern Kaffee in der Hand auf ihn zukam.
«Hatten wir Streit, als wir uns vor Wochen das letzte Mal gesehen haben?
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