Ehrenhüter
Bei ihnen war die Chance am größten, den Mann in den verwinkelten Gassen zu fassen.
Steenhoff tupfte sich mit einem Taschentuch die blutende Platzwunde an der Stirn ab.
«Das muss genäht werden», sagte Navideh entschieden. Steenhoff wollte protestieren, aber sie kam ihm zuvor. «Ira wird in den nächsten Tagen schon über genügend blaue Flecken bei dir hinwegsehen müssen. Wenn du die Verletzung nicht nähen lässt, hast du eine lebenslange Erinnerung an diesen Abend.»
«Okay. Ich fahre kurz ins Krankenhaus, und dann werde ich mir den Jungen vorknöpfen», knurrte Steenhoff. Er humpelte auf zwei Beamte zu und sprach mit ihnen. Die Männer hievten Osman vom Boden hoch und führten ihn zu einem Streifenwagen. Steenhoff ging zu einem zweiten Polizeiwagen und ließ sich vorsichtig auf die Rückbank sinken.
Navideh stieg auf der anderen Seite ein. «Ich komme mit, dann kannst du mir erzählen, was eigentlich passiert ist.»
Steenhoff, so erfuhr Navideh, war keine hundert Meter weit gekommen, als plötzlich Osman aus einem Hauseingang direkt auf ihn zulief. Als Steenhoff ihn aufforderte, stehen zu bleiben, flüchtete der Junge in den Garagenhof. Dort hatte er sich heftig gegen seine Festnahme gewehrt. Den zweiten Mann hatte Steenhoff erst bemerkt, als dieser ihn von hinten niederschlug.
«Ich verstehe das alles nicht», sagte Navideh. «Was macht Osman in der Nacht, nachdem wir der Familie die Nachricht vom Tod der Schwester überbringen, hier im Viertel? Und warum greift er dich zweimal an? Der scheint ja völlig durchgedreht zu sein.»
Steenhoff nickte und suchte vergeblich in seiner Jacke nach einem neuen Taschentuch. Die junge Schutzpolizistin,die den Wagen steuerte, bemerkte seine Not und reichte ihm eine Packung Taschentücher.
«Dreh nochmal um», bat Steenhoff die Beamtin. «Wir müssen zurück in die Friesenstraße. Ich habe etwas Wichtiges vergessen.» Die Polizistin wendete.
«Die Kollegen haben dein Funksprechgerät gefunden», beruhigte ihn Navideh.
«Ja, ich weiß», sagte Steenhoff abwesend. Er sah angestrengt nach draußen. «Langsamer», befahl er, als sie in die Wohnstraße hineinfuhren. «Stopp!»
Er ließ sich von der Polizistin eine Taschenlampe geben und lief die Treppen bis zur Eingangstür eines Altbremer Hauses hinauf. Navideh folgte ihm zögernd.
«Ich frage mich, was Osman hier mitten in der Nacht wollte», sagte Steenhoff und notierte sich den Namen am Klingelschild.
«Sollen wir die Bewohner wecken?»
«Nein, nicht jetzt.»
Zehn Minuten später erreichten sie die Ambulanz der Klinik. Während sich Steenhoff seine Platzwunde von einem jungen Arzt nähen ließ, ging Navideh nach draußen.
Der Himmel war stark bewölkt. Sie lehnte sich an einen Pfeiler und schloss die Augen. Vanessa kam ihr in den Sinn. Es war gut, dass sie nicht mehr zusammen waren. ‹Jetzt bin ich niemandem mehr Rechenschaft schuldig, wenn ich erst mitten in der Nacht vom Dienst nach Hause komme›, dachte sie. Vanessa hatte nie viel Verständnis für ihre Arbeit aufgebracht. Ständig hatte es Streit darüber gegeben.
Müde rieb sich Navideh die Augen. Die kalte Nachtluft tat ihr gut. Ihr ganzer Körper sehnte sich danach, sich endlich hinzulegen und auszuruhen.
Plötzlich hatte sie Nilgün vor Augen. Eine strahlende, verliebte junge Frau. Nun lag dieselbe Frau bleich und mit von Würmern zerfressenem Gesicht in einer Kühlkammer der Rechtsmedizin. Tot, wie ihr ungeborenes Baby. Wer hatte ihr das angetan? Und warum hatte der Täter das Mädchen am anderen Ende Bremens abgelegt? Oder war es nur ein Unfall gewesen und jemand hatte sich in Panik der Leiche entledigen wollen? Nur wenige Meter von dem Fundort entfernt, an dem Spaziergänger vor Jahren eine ermordete Frau entdeckt hatten?
Navideh glaubte nicht an einen Zufall. Der Fundort war eine Botschaft. Aber sie konnten sie nicht lesen. War es jemand aus der Familie gewesen? Die Eltern hatten ehrlich entsetzt gewirkt. Auf der anderen Seite hatten sie Nilgün tagelang nicht bei der Polizei als vermisst gemeldet. Wie passte das zusammen? Die Cetins reagierten doch wahrscheinlich schon nervös, wenn das Mädchen nur zwei Stunden später als üblich nach Hause kam. Und jetzt auch noch Osman! Nilgüns Bruder schien völlig den Verstand verloren zu haben. Sie seufzte.
«Geht es Ihnen gut?»
Navideh öffnete die Augen und sah sich einer älteren Frau gegenüber, die ganz in Weiß gekleidet war. Die Schwester hielt ihre Zigarette hinter den Rücken, damit
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