Ehrenhüter
ebenfalls in die Seitenstraße.
Wütend trat Navideh gegen einen Behälter, in den die Kunden des Bio-Ladens ihre gebrauchten Korken werfen sollten. Als sie wieder hochschaute, war auch der zweite Mann nicht mehr da. Undeutlich nahm sie noch eine Bewegung in der dunklen Wohnstraße wahr, in der Steenhoff und Osman verschwunden waren. Dann schob sich eine Straßenbahn in ihr Sichtfeld. Sie hoffte, hinter der Bahn einen Streifenwagen zu entdecken, aber außer ein paar Radfahrern war die Straße leer.
Die Bremsen der Bahn quietschten, und einen Moment lang meinte Navideh, Steenhoffs Stimme zu hören. Er rief nach ihr. Oder war das nur Einbildung? Nichts hielt sie mehr in ihrem Versteck. Stattdessen hastete Navideh über die Straße und war Sekunden später ebenfalls in der Dunkelheit verschwunden.
Im Gegensatz zu der beleuchteten Hauptstraße stand in der ruhigen Seitenstraße nur alle 100 Meter eine Laterne. Viele Häuser lagen im Dunkeln. Die Straße wirkte wie ausgestorben. An den Zäunen standen Räder, die ihre Besitzer mit dicken Schlössern angeschlossen hatten. Andere waren an Eisenringe in den Hauswänden gekettet.
Navideh lauschte angestrengt in die Nacht. Ein Trupp grölender Männer, die auf der Hauptstraße in RichtungSielwallkreuzung zogen, übertönte alles. Dann war es wieder still. Irgendwo hier mussten Steenhoff und Osman sein. Sie holte ihr Handy heraus, um dem Lagezentrum ihre neue Position bekannt zu geben. Da hörte sie einen erstickten Schrei. Kurz darauf stöhnte jemand, hatte aber noch genug Kraft zu fluchen.
Die Geräusche kamen aus einem Garagenhof. Navideh rannte auf die Einfahrt zu und zog ihre Dienstwaffe. Der Hof lag in völliger Dunkelheit. Dennoch meinte sie, zwei Schatten auf dem Boden zu erkennen, die miteinander kämpften. Vorsichtig ging sie darauf zu. Ein dritter Schatten stand bei den Kämpfenden und trat auf den unten liegenden Mann ein.
«Hände hoch! Polizei!», brüllte Navideh und versuchte, das leise Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Die Schatten schienen mitten in ihrer Bewegung zu gefrieren. Der Mann, der neben den Kämpfenden stand, drehte sich um und schleuderte etwas in ihre Richtung. Dann machte er einen Satz, zog sich an einem hohen Drahtzaun hoch und verschwand in einem der angrenzenden Gärten.
Mit gezogener Pistole ging Navideh auf die am Boden liegenden Männer zu. Als sie näher kam, sah sie, dass Osman auf Frank Steenhoff hockte. Er wirkte wie vom Donner gerührt.
Navideh dirigierte ihn ein paar Meter in Richtung der Garagen und befahl ihm, sich hinzulegen.
«Eh, das ist nass hier», protestierte Osman.
«Scheißegal», fuhr sie ihn grob an. «Hinlegen!» In ihrer Zeit bei der Schutzpolizei hatte sie gelernt, Klartext zu sprechen. Bei Typen wie Osman kam man anders nicht weiter. Sie warf Steenhoff einen kurzen prüfenden Blick zu.
Er hatte sich aufgesetzt und stützte sich mühsam mit derrechten Hand ab. Trotzdem hatte er schon wieder genug Kraft, seine Kollegin anzuherrschen. «Was machst du hier? Du solltest doch auf die anderen warten!»
«Alles okay?», fragte sie anstelle einer Antwort.
«Ja», antwortete Steenhoff unwirsch. Er fuhr sich über seine aufgeplatzte Augenbraue und verrieb, ohne es zu bemerken, etwas Blut in seinem Gesicht.
Navideh war erleichtert, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn hoch. «Ich dachte, ich gucke mal nach, bevor dir Osman und der andere Typ womöglich ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.»
Steenhoff grinste gequält. Humpelnd ging er auf Osman zu und legte ihm Handschellen an. Als er den Jungen abtastete, fand er eine Pistole und ein Messer.
Der Lärm auf dem Garagenhof hatte die Nachbarschaft geweckt. In einigen Häusern ging Licht an.
Prüfend untersuchte Steenhoff die Waffe in seiner Hand. «Es ist eine Gaspistole.» Er klang erleichtert. Dann sah er sich suchend auf dem Garagenhof um. «Hier muss irgendwo mein Funkgerät liegen. Ich hab’s verloren, als mich der andere Kerl plötzlich angegriffen hat.»
Navideh holte erneut ihr Handy hervor und wählte die Nummer des Lagezentrums. Im selben Moment bogen mit hoher Geschwindigkeit zwei Streifenwagen in den Hof ein. Jemand aus der Nachbarschaft musste die Polizei alarmiert haben. Die Wagen hatten Fernlicht eingeschaltet. Schlagartig war es um sie herum taghell.
Steenhoff gab eine knappe Beschreibung des Mannes ab, der ihnen entwischt war. Die Information wurde auch an die Zivilfahnder weitergegeben.
Weitere Kostenlose Bücher