Ehrenhüter
Wiese geworfen …» Das Mädchen zuckte zusammen. «Dieser Menschmuss bestraft werden. Und dazu brauchen wir deine Hilfe!» Navideh beobachtete Saliha, doch das Mädchen blieb auf der Hut.
‹Ich habe es falsch angefangen›, dachte Navideh. Saliha würde nichts sagen. Krampfhaft suchte Navideh nach einem Weg, zu dem Mädchen durchzudringen.
«Was hätte Nilgün gemacht, wenn du getötet worden wärst?» Navideh startete einen erneuten Versuch. «Hätte sie sich einfach verkrochen und den Mund gehalten, oder hätte sie gewollt, dass der Täter bestraft wird? Wärest du ihr so scheißegal gewesen, wie sie es dir offenbar ist?»
«Sie ist mir nicht scheißegal!» Saliha fuhr Navideh wütend an und sprang aufgebracht von der Bank.
Navideh hielt sie am Arm fest. Dabei rutschten Salihas Jacke und ihr Pullover hoch. Auf dem rechten Arm war ein großer blaugrüner Fleck zu sehen. Navideh lockerten ihren Griff nicht, sondern schob den Ärmel der Jacke noch ein Stück weiter hoch. Der Arm des Mädchens war voller Hämatome.
Saliha schaute beschämt zu Boden. Schnell entzog sie Navideh den Arm und schob den Pullover runter.
«Wer hat dich so zugerichtet, Saliha?»
«Ich bin gefallen.» Als der Schulgong ertönte, setzte sie sich wieder.
«Lüg nicht!», sagte Navideh streng. «Dein Vater hat dich geschlagen. Hab ich recht? Immer und immer wieder auf dich eingedroschen. Hat er dich auch beschimpft und angespuckt? Oder ist dir das erspart geblieben?»
Saliha schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und fing an zu weinen. Erst leise, dann immer lauter. Navideh kam es wie ein Dammbruch vor. Sie kämpfte gegen die bleierne Gewissheit, zu weit gegangen zu sein. Vorsichtigrückte sie näher an das Mädchen heran. Saliha schien es in ihrer Verzweiflung nicht zu bemerken. Wieder und wieder schluchzte sie laut auf. Der schmale Körper krümmte sich bei dem vergeblichen Versuch, die Tränen zu unterdrücken. Navideh war froh, dass die Pause mittlerweile zu Ende war und sie allein auf dem Schulhof waren.
«Es tut mir leid», sagte sie leise und legte einen Arm um die bebenden Schultern. Saliha ließ es geschehen. Am liebsten hätte Navideh ihre Worte rückgängig gemacht. «Ich kenne das, was du erlebt hast», begann Navideh behutsam. «Mein Vater hat mich früher oft geschlagen, wenn er meinte, dass ich zu sehr wie eine Deutsche werde. Aber er war noch harmlos im Vergleich zu meinem Bruder … Dabei fand ich die Schläge gar nicht das Schlimmste. Es waren die Worte, die mich so tief verletzt haben. Wenn mein Vater mich in seiner Wut eine Hure oder Schlampe nannte … Seine eigene Tochter!»
Navideh spürte, dass Saliha ihr zuhörte, obwohl sie sie noch immer nicht ansah. Die Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen. «Irgendwann, mein Vater war schon lange tot, habe ich beschlossen, mir das nicht mehr gefallen zu lassen. Niemand hat das Recht, uns Mädchen und Frauen zu schlagen und zu beleidigen, Saliha. Verstehst du? Niemand. Kein Vater und kein Onkel, kein Bruder und auch keine Mutter.»
«Das hat Nilgün auch immer gesagt.» Saliha suchte in ihrer Jacke vergeblich nach einem Taschentuch. Der Rotz lief ihr die Nase runter.
Navideh fummelte mit der rechten Hand ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Hosentasche und reichte es ihr. Mit dem linken Arm hielt sie weiter die schmalen Schultern umfasst. Sie spürte keinen Widerstand mehr.
«Nilgün war ein verdammt kluges Mädchen. Wusstest du übrigens, dass sie an ihrer Schule zur Schülerin des Jahres gewählt werden sollte?»
Saliha schaute überrascht hoch und schüttelte den Kopf.
«Deine Schwester hat seit zwei Jahren jede Woche mehrere Stunden kostenlos Nachhilfe für Schüler aus ärmeren Familien gegeben. Dafür hat sie den älteren Jungen das Geld aus der Tasche gezogen, wenn sie sie beim Schachspielen besiegt hat.»
Saliha nickte anerkennend. Zum ersten Mal meinte Navideh, so etwas wie ein Lächeln um ihren Mund zu erkennen. Saliha wusste also, dass Nilgün um Geld spielte.
«Habt ihr auch manchmal Schach miteinander gespielt?»
«Nein. Aber sie hat versprochen, es mir im nächsten Türkeiurlaub beizubringen.»
«Hat sie viel Geld dabei gewonnen?»
«Ich glaub schon. Die Jungen rissen sich darum, gegen sie zu spielen. Und sie wollte sich Geld fürs Studium verdienen.»
«Wussten deine Eltern davon?»
Saliha sah Petersen entsetzt an. «Nein, natürlich nicht.»
«Und die anderen haben es zu Hause nicht erzählt?»
«Soviel ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher