Ehrenhüter
gehen nur wenige türkische Schüler auf Nilgüns Schule. Und von denen hat sie sich immer ferngehalten.»
«Warum?»
«Weil …», Saliha suchte nach den richtigen Worten. «Weil sie Angst hatte, dass die anderen Schüler zu Hause etwas von ihr erzählen würden. Das hätten
Anne
und
Baba
erfahren. In unserer Familie ist es wichtig, was andere überuns denken und reden. Meinen Eltern und Osman ist es zumindest sehr wichtig.»
«Und Murat?»
Saliha zuckte die Schultern. «Der lebt sein eigenes Leben.»
«Geht er denn nicht regelmäßig in die Moschee?»
«Doch. Aber er schert sich nicht um das Gerede der Nachbarn. Er hat ja auch eine deutsche Freundin.»
«Warum war dein Vater so wütend auf dich, dass er dich geschlagen hat?», fragte Navideh sanft.
Saliha kroch wieder in sich zurück, und Schweigen breitete sich aus. Navideh ließ ihr Zeit. Nach einer Weile, die Navideh wie eine Ewigkeit vorkam, begann Saliha zögernd zu sprechen. «Er dachte, ich wüsste, mit wem sich Nilgün herumgetrieben hat.»
«Und wusstest du es?»
«Ja.»
Navideh wartete ab. Schließlich gab sich Saliha einen Ruck.
«Sie hat es mir vor einigen Wochen erzählt, nachdem ich zufällig eine SMS von ihrem Freund gelesen hatte.» Sie stockte. «Ich musste Nilgün schwören, dass ich es nie jemandem erzählen würde.»
«Du hast den Schwur gehalten», sagte Navideh anerkennend.
«Ja.»
«Aber jetzt ist deine Schwester von einem Unbekannten getötet worden, und deswegen musst du mir alles erzählen, was du weißt, damit wir den Täter finden können.» Navideh ließ die Worte auf Saliha wirken. Dann drehte sie das Gesicht des Mädchens sanft zu sich und sah sie beschwörend an: «Du hilfst deiner Schwester nicht mehr durch Schweigen.Aber du kannst helfen, ihren Tod zu sühnen, wenn du mit uns zusammenarbeitest!»
Saliha starrte angestrengt geradeaus, als hätte sie gerade am anderen Ende des Hofes etwas Wichtiges entdeckt. Doch dort fegte nur der Hausmeister einen großen Haufen Blätter zusammen. Endlich gab sie sich einen Ruck. Mit tränenverschleiertem Blick sah sie Navideh an. Jedes einzelne Wort schien sie Kraft zu kosten. «Und was, wenn es … wenn es einer von uns war?»
«Du meinst, jemand aus eurer Familie?»
Saliha nickte.
«Wie kommst du darauf?»
«Sie haben meine Schwester an dem Abend zu dritt gesucht. Osman, mein Vater und Murat.
Baba
war so wütend, dass sie nicht pünktlich nach Hause gekommen war und auch nicht an ihr Handy ging … Als die drei spätnachts wiederkamen, waren sie so merkwürdig, und
Anne
hat die ganze Zeit geweint.» Saliha schluchzte laut auf.
«Was meinst du mit merkwürdig?»
«Sie haben miteinander geflüstert, sodass ich nichts verstehen konnte. Am nächsten Morgen waren sie schon früh weg. Ich glaube, sie waren vor Nilgüns Schule und wollten ihr auflauern.»
«Und? Haben sie Nilgün an dem Morgen gesehen?»
«Ich weiß es nicht. Sie haben nicht mit mir darüber geredet.»
Navideh studierte Salihas Gesicht. Sie hatte keinen Zweifel, dass das Mädchen die Wahrheit sagte.
Sie musste sich überwinden, die nächste Frage zu stellen. «Hältst du es für möglich, dass einer deiner Brüder oder dein Vater Nilgün getötet haben, weil sie dahintergekommen sind, dass sie ein Verhältnis mit einem Jungen hatte?»
Saliha richtete sich kerzengerade auf. Dann drehte sie sich um und sah Navideh zum ersten Mal direkt in die Augen. «Ich weiß nur, dass meine Schwester tot ist und mein Vater mehr Angst hat, seine Ehre zu verlieren, als dass er um Nilgün trauert. Als er gestern von der Polizei zurückkam, sagte er, dass er keine Tochter mehr habe, die Nilgün heißt. Er will, dass wir ihren Namen in der Familie nie wieder erwähnen. Er hat sie verstoßen! Meine tote Schwester …! Was würden Sie an meiner Stelle denken?»
Navideh wog jedes Wort ab. Doch schließlich entschied sie sich, ehrlich zu sein. «Ich würde es nicht glauben wollen. Und gleichzeitig hätte ich furchtbare Angst, dass es einer von ihnen gewesen sein könnte.»
Saliha presste sich die Hand vor den Mund und versuchte vergeblich, ein erneutes Weinen zu unterdrücken.
Sanft strich ihr Navideh über den Kopf. «Ich verspreche dir», murmelte sie, «wir werden alles tun, damit du bald Gewissheit hast.»
Steenhoff zog sich Einmalhandschuhe über und holte mehrere naturwissenschaftliche Bücher aus dem Spind. Hinter ihnen lag eine kleine, prall gefüllte Plastiktüte, um die ein Gummiband gebunden war.
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