Ehrenhüter
schmeckten, wie sie aussahen, war bald alles weg. Nur Navideh Petersen hatte nichts angerührt.
Steenhoff benötigte eine gute halbe Stunde, bis er das Wichtigste zusammengefasst hatte. Dann übernahm Navideh und schilderte ihr Gespräch mit Saliha. Steenhoff fiel auf, dass sie abwesend wirkte und häufig auf ihren Stichwortzettel schauen musste. Als Fabian Block ein paar Mal nachhakte, musste sie ihn zweimal bitten, die Fragen zu wiederholen.
Nachdem alle auf denselben Stand gebracht waren, zog Steenhoff Romans Handy aus der Tasche. Er suchte unter den vielen Kurznachrichten nach der entscheidenden SMS und öffnete sie. Die anderen warteten gespannt.
«Also, an dem Montagabend, an dem sich Nilgüns Spur verliert, schreibt sie Roman um 19.20 Uhr folgende Nachricht …» Vergeblich suchte Steenhoff in der Jackentasche nach seiner Brille. Ungeduldig sah er sich im Raum um. Schließlich nahm er widerwillig Tewes’ Brille, die dieser ihm hinhielt, und las: «Roman, ich will nicht mehr. Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt. Mit ihm habe ich eine gemeinsame Zukunft. Es tut mir leid. Nilgün.»
Niemand sagte etwas. Es war allen klar, dass die vier Sätze ihre bisherigen Ermittlungen in eine völlig andere Richtung lenkten. Tewes bat darum, dass Steenhoff die Nachricht ein zweites Mal vorlas. Nilgüns letzte Nachricht schien wie ein Hinweis aus dem Jenseits. Wer war der Mann, von dem sie sprach? Wieso hatten sie ihn bislang übersehen?
Nach einer Weile meldete sich Wessel zu Wort. «Sieht soaus, als hätte uns unser junger Freund eine wichtige Information unterschlagen. Fragt sich nur, warum?»
«Nilgün hat ihn verlassen. Das hat ihn sicherlich mächtig gekränkt.»
«Oder wütend gemacht», warf Tewes ein.
«Aber sie erwartete ein Kind von ihm, warum sollte sie ihn ausgerechnet jetzt verlassen?», erwiderte Steenhoff.
«Vielleicht war das Kind ja gar nicht von ihm», preschte Block vor. «Vielleicht war das Kind ja von ihrem neuen Freund? Sie spricht ja von einer gemeinsamen Zukunft.»
«Wir werden das überprüfen», sagte Steenhoff und machte sich eine Notiz. Er würde Staatsanwalt Jens Degert bitten, sofort alles zu veranlassen, damit sie Roman einem Speicheltest unterziehen könnten. Er dachte an Nilgüns Parallelwelt. Es war sicher schwer für sie gewesen, die Liebesbeziehung mit Roman all die Monate geheim zu halten. Nilgün hatte sich immer wieder neue Geschichten zurechtlegen müssen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass das Mädchen noch ein weiteres Geheimnis mit sich herumschleppte. Im Laufe der Jahre war Nilgün eine geübte Lügnerin geworden, um sich ein paar Freiheiten zu ermöglichen. Aber dass der engmaschigen Kontrolle der Familie gleich zwei Liebesbeziehungen entgangen sein sollten, mochte er kaum glauben. Vielleicht hatte sie auch nur die Beziehung zu Roman abbrechen wollen und nach einem scheinbar guten Grund gesucht. Steenhoff versuchte, sich in das Mädchen hineinzuversetzen. Sie war schwanger – die größtmögliche Katastrophe, die in ihrem Leben passieren konnte.
«Vielleicht wollte sie das Kind auch abtreiben und alles andere, was damit zu tun hatte, hinter sich lassen», schlug Wessel als neue Hypothese vor.
Steenhoff schaute in Petersens Richtung. Was sagte sie dazu? Sie war die einzige Frau in der Runde. Zudem entstammte sie einer Kultur, in der voreheliche Liebesbeziehungen ähnlich hart sanktioniert wurden. Ihre Blicke kreuzten sich, aber Navideh sagte nichts. ‹Sie wirkt müde, aber verdammt, sie muss sich zusammenreißen. Ich tue es ja schließlich auch›, dachte Steenhoff verärgert. Er beschloss, sie direkt anzusprechen.
«Navideh, was denkst du über die SMS an Roman?»
Sie zuckte zusammen und schien von weit her zu kommen. Verlegen sah sie Steenhoff an. Verblüfft registrierte er, dass sie ihm gar nicht zugehört hatte. Mit ein paar belanglosen Sätzen rettete sie sich aus der Situation. Die anderen schienen nichts bemerkt zu haben. Aber Steenhoff nahm sich vor, Petersen gleich nach der Besprechung auf ihr fehlendes Engagement anzusprechen.
«Wir sollten umgehend die schnellstmögliche genetische Überprüfung des Fötus beauftragen», fuhr Steenhoff fort. «Außerdem müssen wir Roman in die Zange nehmen. Der Junge hatte bei seiner ersten Befragung angegeben, an dem Montagabend wie immer beim Sport gewesen zu sein.»
«Was macht er?», erkundigte sich Block.
«Basketball», antwortete Steenhoff. «Sein Alibi haben wir überprüft. Von 18 Uhr bis
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