Ehrenhüter
entschieden und lange mit ihr zusammengelebt. Wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass sich Navideh nach dem Bruch mit Vanessa erneut eine Frau als Partnerin suchen würde.
«Ist Jorges der Nachbar, den du mitten in der Nacht noch besuchen wolltest?»
Sie schaute ihn verwundert an. «Ja. Dass du dich daran erinnerst!»
«Was genau werfen sie ihm denn vor?»
Navideh setzte sich und fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch ihre langen schwarzen Haare. Ein paar Strähnen legten sich über die Stuhllehne. Steenhoff bildete sich ein, dass ein bläulicher Schimmer auf ihnen lag. So wie bei den Indianern in den Comics, die er als Kind zu Hunderten verschlungen hatte. Navideh hätte den bewunderten Figuren seiner Kindheit problemlos Modell stehen können. In den vergangenen Jahren hatte er oft gedacht, dass sie ihnan jemanden aus früheren Zeiten erinnerte. Aber er war nicht darauf gekommen, wer es war. Jetzt wusste er es. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Navideh sah aus wie die Häuptlingstochter, um deren Liebe sein muskelbepackter Lieblingsheld Heft für Heft erneut gekämpft hatte.
Steenhoff schob die Gedanken beiseite. Er war froh, dass Navideh so sehr mit sich selbst beschäftigt war, dass sie noch nicht mal ahnte, wie ihr Kollege gedanklich abschweifte.
Erleichtert, endlich die Maske der Selbstbeherrschten abnehmen zu können, ließ sie sich in ihren Sitz fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Im selben Moment sprang ein Knopf an ihrer Hemdbluse auf.
Steenhoff zwang sich, nicht auf den dunklen BH darunter zu starren. «Dein Knopf …», sagte er matt.
Wieder schien Navideh zu erröten. Während sie zu erzählen begann, nestelte sie nervös an ihrer Bluse herum.
Steenhoff erfuhr, dass sich Jorges nach seiner Vernehmung bei ihr gemeldet und von den Vorwürfen erzählt hatte. Demnach beschuldigte ihn eine 4 4-jährige Frau, sie nach einer Taxifahrt in der Nähe des Sodenmattsees überwältigt und misshandelt zu haben. Nur dank ihrer heftigen Gegenwehr sei es nicht zu einer Vergewaltigung gekommen. Für die Glaubwürdigkeit der Frau sprach, dass sie große Hämatome an den Innenseiten der Oberschenkel und an der Brust aufwies. Außerdem war ihre Oberbekleidung zerrissen. Als sich ein Mann mit seinem Hund dem Tatort näherte, flüchtete Jorges nach Aussage der Frau in seinen Wagen. Das vermeintliche Opfer hatte noch in der Nacht Anzeige erstattet.
«Wieso können die so sicher sein, dass es Jorges war?»
«Die Frau hat sich das Kennzeichen gemerkt», antwortete Navideh. «Er bestreitet auch gar nicht, sie gefahren zuhaben. Er sagt, sie wollte ihn um die Fahrtkosten prellen. Also hat er sie festhalten wollen. Es sei zu einer Rangelei gekommen, und er hat ihr 25 Euro abgenommen. Die Hälfte von dem, was sie ihm schuldete. Er schwört Stein und Bein, dass nicht mehr passiert ist. Als er mich vorhin anrief, war er am Boden zerstört.» Sie sah Steenhoff ernst an. «Ich weiß, es klinkt naiv, aber ich glaube ihm.»
«Wie gut kennt ihr euch?», wollte Steenhoff wissen. Die Frage war legitim. Wenn er Jorges helfen wollte, musste er mehr über ihn wissen. Aber insgeheim musste Steenhoff sich eingestehen, dass ihn die Antwort auch persönlich interessierte.
«Eigentlich nicht besonders gut. Mehrere längere Gespräche, mal vor dem Käsestand auf dem Wochenmarkt im Viertel, mal vor der Tiefkühltruhe im Supermarkt, mal ein gemeinsamer Kaffee.»
«Nichts Intimes?»
«Nein», antwortete Navideh schnell und sah Steenhoff überrascht an. «Aber ich habe trotzdem das Gefühl, ich kenne Jorges schon lange. Und ich weiß, er hat nichts Gewalttätiges in sich.» Sie ging zum Fenster und drehte Steenhoff den Rücken zu. «Weißt du, Frank, wir haben hier ständig mit Menschen zu tun, die ausrasten, auf andere losgehen. Sie sogar töten. Außerdem musste ich jahrelang mit meinem gewalttätigen Bruder unter einem Dach leben. Ich spüre, wenn jemand nichts von dieser Energie hat.»
Er sah sie nachdenklich an. «Was für diesen Fall bedeuten würde, dass die Frau lügt.»
«Ja.»
Sie schwiegen. Dann nahm Steenhoff den Faden erneut auf. «Weißt du, wie sie heißt?»
«Gabriele Koch.»
Er setzte sich an seinen Computer und gab den Namen in die Anzeigen-Datei ein. Auf dem Bildschirm erschienen mehrere Einträge.
«Die Frau war schon häufiger Opfer. Sie hat eine Anzeige wegen Trickbetrügereien an der Haustür gemacht, wegen Körperverletzung gegen unbekannt und zuletzt wegen eines
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