Ehrensachen
wurden. Wieviel davon sie selbst glaubten, wußte ich nicht. Der alte Mr. Standish, mein Wohltäter, hatte alle Drähte gezogen. Wo waren die Grenzen seiner Diskretion? Oder der Diskretion meiner wirklichen Eltern, falls sie informiert wurden oder herausgefunden hatten, wem sie ihr Kind aushändigten?
Mr. Hibbles Enthüllungen hatten mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Aber auf den ersten Schock folgte eine verdächtige Hochstimmung: Ich sagte mir, das Wissen, daß keine biologische Verbindung zwischen mir und diesen beiden bestand, sei ein Grund zur Freude. Ich ließ mich auf wilde Spekulationen ein, wessen Kind ich wirklich seinmochte. Es mußte jemand sein, für den der alte Mr. Standish sich verantwortlich gefühlt hatte. Wer das sein sollte, konnte ich mir nicht ausmalen; meine Kenntnis der Familie reichte nicht weit genug, aber es gab verschiedene denkbare Gründe für die Ähnlichkeit zwischen mir und meinem Vater und den anderen Standishs: meinem Großvater Standish, der starb, als ich noch klein war, dessen Fotos ich aber studiert hatte; meinem Wohltäter Horace Standish, der ein paar Jahre später gestorben war; seinem Sohn Jack, der die Bank leitete; und schließlich dessen einzigem Sohn, meinem Vetter George, der in meinem Jahrgang am Harvard College war. Außerdem konnte in dieser Ähnlichkeit eine zusätzliche Erklärung dafür liegen, daß man in der Bank durch dick und dünn zu meinem Vater gehalten hatte; allerdings gebot das schon der kategorische Standish-Imperativ: Kein Standish wird je ein Mitglied seiner Familie feuern oder öffentlich demütigen. Die nächste Frage war: Wer wußte Bescheid, und wieviel wußte man? Je mehr ich nachdachte, um so weniger konnte ich glauben, daß es kein Gerede über meine Herkunft gegeben hatte. Innerhalb der Familie mußte jemand etwas gesagt haben, denn, so spekulierte ich ohne Grundlage, der Trust konnte nicht ganz verborgen geblieben sein, als der alte Mr. Standish gestorben war und die Erben sein Testament lasen. Schlimmer noch: Ich hatte gehört, wie Mr. Hibble im Umkleideraum des Clubs Fälle erörterte, an denen er arbeitete. Er war kein unbedingt verschwiegener Mann. Niemand hatte mir je angedeutet, daß ich eine Art Findelkind sei. Das konnte allerdings am durchweg guten Benehmen der Familie Standish und der meisten unserer Bekannten liegen. Ich wußte nicht recht, wie wichtig es mir war. In dem Jahr hatten wir in meinem Englisch-Kurs für Fortgeschrittene den Sturm und auch König Lear gelesen. Verworrene Vorstellungen vom Segen und Fluch der Natur im Gegensatz zur Umwelt und von unehelicher Geburt schwirrten mir im Kopf herum, ohne daß ich zu einer Lösung kam. Zeitweilig romantisierte ich meine neue Lage. Aber vor allem wünschte ich mir Distanz und Anonymität. Ich fand heraus, daß es nicht zu spät war, mich für einen Fremdsprachenkurs anzumelden, dessen Teilnehmer den Sommer über nach Frankreich geschickt wurden. Meine Eltern hatten keine Einwände, auch Mr. Hibble stimmte zu, als ich ihn anrief und fragte, ob der Trust für die Finanzierung aufkommen werde. Anschließend, sobald ich im College sein würde, wollte ich mich bemühen, die Berkshire-Furien von mir fernzuhalten.
III
Regelmäßig dreimal pro Woche telefonierte Henry mit seiner Mutter. Er mußte anrufen und ein R-Gespräch anmelden. Wenn sie ungeduldig wurde, griff sie selbst zum Hörer. All das wußte ich, weil ich fast immer in meinem Zimmer arbeitete, lieber als in der Bibliothek, und folglich, wenn das Radio im Wohnzimmer nicht alles übertönte, notgedrungen Gesprächsfetzen ihrer Unterhaltung mit anhörte. Einzelheiten erfuhr ich später von Mrs. White im Zuge vieler Plaudereien, die sich ergaben, wenn ich das Gespräch annahm und sagen mußte, daß Henry nicht da war. Am Ende erzählte mir Henry selbst, was es damit auf sich hatte.
Den Grund für seine Abwesenheit gab ich je nach Tageszeit an: Er ist in der Bibliothek, oder: er ist früh zum Abendessen gegangen, denn ich hatte gemerkt, daß dies die Auskünfte waren, die sie mit der größten Wahrscheinlichkeit einigermaßen gutwillig akzeptierte. Wenn ich Pech hatte und zugeben mußte, daß ich nicht wußte, wo er steckte, oder daß er ins Kino gegangen oder mit einem Mädchen verabredet war, dann nahm sie mich ins Verhör. Einmal, im Lauf einer besonders peinlichen Befragung, hörte ich mich sagen, ich sei Henrys Zimmergenosse, nicht sein Hüter. Zu meiner Überraschung wirkte diese Grobheit, die ich sofort
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