Ehrensachen
ich nicht anrufe oder den Brief nicht schreibe, fuhr er fort, dann macht sie eine Szene. Sie schreit mich an, sie schreit meinen Vater an, weil sie behauptet, daß er nicht streng genug mit mir ist. Dann bekommt er Schmerzen in der Brust und sagt, sie wird ihn ins Grab bringen; dann ruft sie mich an und macht wieder eine Szene, weil ich meinen Vater krank mache, Unfrieden zwischen ihnen stifte und ihre Ehe zerstöre. Die Angina pectoris ist das Schlimmste. Ich will nicht schuld an einem Herzinfarkt sein. Also schreibe ich und telefoniere, ganz egal ob mir danach ist, egal, ob ich was zu sagen habe oder nicht.
Das sind schwierige Unterhaltungen, fügte er nach einer Pause hinzu, sie verleiden dir das Telefonieren.
Ich konnte ihm nicht widersprechen, da ich als Lauscher wider Willen viel von diesen Telefonaten mitangehört hatte. In einem Anfall von ungeschminkter Ehrlichkeit sagte ich ihm, manchmal klängen sie wie Zank. Henry war nicht gekränkt; er lachte.
Was hilft’s, sagte er, ich muß es tun.
Ich überlegte, ob die drei Whites sich vielleicht gegenseitig in Angst versetzten, und fragte ihn, ob er sich Sorgen um seine Eltern mache, wenn er mit einem dieser Anrufe unpünktlich sei.
Nein, erwiderte er, eigentlich nicht, obwohl ich es vielleicht sollte, wegen meines Vaters. Aber das Problem ist meine Mutter. Mein Vater denkt unter der Woche wahrscheinlich gar nicht an mich oder höchstens, wenn ich als Fahrer oder Laufbursche erwünscht wäre. Und natürlich,wenn meine Mutter meinetwegen eine Szene macht und ihm wieder mal erklärt, daß sie nach dem Krieg nur bei ihm geblieben ist, weil sie mich nicht verlieren wollte, und daß sie mich jetzt trotzdem verloren hat und daß selbst das allein seine Schuld ist.
Er lachte wieder. Ich wette, mein Vater wünscht sich: Hätte ich ihr doch gesagt, sie soll verschwinden und ihren kostbaren Sohn mitnehmen! Nein, das ist unfair. Ich weiß, er liebt mich auf seine Art, was immer das heißt, doch er hat andere Dinge im Kopf. Sein Geschäft und das Geld und wie er Ärger mit meiner Mutter vermeiden kann. Aber er regt sich nicht über mich auf. Das ist ihr Spezialgebiet. Sie glaubt wohl im Ernst, daß man Liebe nur auf eine Weise zeigen kann: indem man sich Katastrophen ausmalt. Sie wird sagen: Ich sehe es schon vor mir: Ein Bus hat dich überfahren, du bist die Treppe runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen, dein Blinddarm ist geplatzt, und deine Schmerzen sind nicht zum Aushalten. Ich sehe es schon vor mir, wie sie dich wegtragen … Für mich ist das keine Liebe; es ist eine katastrophale Mutation, die übelste Form von Selbstsucht.
Daß meine Mutter sich immer Sorgen macht, muß man ganz nüchtern sehen, fuhr er fort, von meinem Schweigen unbeirrt. Zum Teil hat sie wirklich Angst um mich, aber meistens will sie nur, daß ich nach ihrer Pfeife tanze. Meinen Vater manipuliert sie mit derselben Technik, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn ich zum Beispiel nicht anrufe, weil ich es vergessen oder nicht über mich gebracht habe – was vorkommt –, dann kann sie mir die Schuld an allem zuschieben, was bei ihnen in Brooklyn schiefgegangen ist. Sie konnte kein Essen kochen, weil sie sich solche Sorgen gemacht hat; sie hat die Rosenthal-Schale auf den Küchenfußboden fallen lassen, weil sie so nervös war; mein Vater mußte sein Nitroglyzerin einnehmen, weiler sofort gemerkt hatte, in welchem Zustand sie war; sie hat ihre ganze Zeit und Kraft für mich gebraucht, deshalb hat sie sich keine Freunde suchen können. Das kann endlos so weitergehen. Meine Mutter sagt, sie macht sich Sorgen um seine Angina pectoris und sein schwaches Herz, aber so groß sind die Sorgen nicht, daß sie ihn schonen würde. Irgendwie bin ich anders als die beiden: Ich mache mir Sorgen, wenn ich ein Problem habe. Dann nehme ich es in Angriff. Meine Mutter behauptet, ich sei herzlos. Manchmal, wenn ich sie ärgern will, sage ich, sie hätten recht, ich habe kein Herz und deshalb keine Schmerzen in der Brust. Dann solltest du sie hören. Die erste Strafmaßnahme ist, daß sie mir den Geldhahn zudrehen. Damit das leichter geht, schicken sie die Überweisungen wöchentlich, obwohl der vorgeschobene Grund dafür ist, daß sie mir mein Geld nicht im voraus, zum Beispiel monatlich, überweisen, weil ich es ja in zwei Tagen durchbringen würde. Natürlich setzt irgendwann nach einem großen Krach mein schlechtes Gewissen ein. Ich möchte es wiedergutmachen. Das bedeutet, ich muß mich
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