Ehrenwort
Unterhielt jener Horst Müller vielleicht doch dubiose Kontakte zu Max, vielleicht als Dealer? Harald entschied sich, lieber den Mund zu halten. Das eigene Nest wollte er auf keinen Fall beschmutzen. Bisher hatte Harald überall das Idealbild einer glücklichen Familie verbreitet. Warum sollten daran Zweifel auftauchen?
Vielleicht könnte er seinen Sohn einmal für ein gemeinsames Wochenende am See begeistern: angeln, grillen, Gespräche unter Männern. Die Versorgung des Alten würde Petra sicherlich übernehmen, sie hatte es ja auch getan, als Max seine Schwester in Berlin besuchte.
Petra freute sich sehr, als sich ihr Liebhaber nach längerer Abstinenz in der Mittagspause blicken ließ. Sie sah auf der tickenden Wanduhr, dass eine volle Stunde vor ihnen lag.
»Denk dir«, sagte sie und lachte herzlich, »ich war mit Harald übers Wochenende in Baden-Baden. Nachts habe ich dort immer wieder nach Jupiter gerufen. Offenbar habe ich dich in meinen Träumen schmerzlich vermisst.«
Jupiter aber fand diese schmeichelhafte Anekdote überhaupt nicht komisch, sondern ergriff zaghaft ihre Hand. Jetzt würde mit Sicherheit der Satz »Ich muss dir etwas sagen« kommen, sie wusste es im Voraus. Und tatsächlich kam die alte Leier: Seine Frau sei bei ihm, und sie wollten es, vor allem wegen der Kinder, noch einmal miteinander versuchen.
»Okay«, meinte Petra nur. »Es ist also aus. Das passt ja ausgezeichnet, denn ich sehne mich schon lange nach einem temperamentvolleren Freund.«
Sie stand ruckartig auf, ging voraus und machte sehr schnell die Ladentür hinter ihm zu. Dann brach sie an ihrem Schreibtisch in Tränen aus.
»Scheißmänner!«, schluchzte sie gedemütigt. Unerträglich, dieses verlogene Getue wegen seiner Kinder, die das elterliche Nest längst verlassen hatten. Plötzlich dachte sie mit großer Sympathie an Harald, der sich nie so ekelhaft benehmen würde. Die kleine Perlenkette, die er ihr in der Baden-Badener Hotelboutique gekauft hatte, war edel und wunderschön.
Max versuchte unterdessen erneut, seinen schlafenden Großvater zu wecken. »Müsse mehr trinke«, hatte Elena geraten. Also war Trick siebzehn wieder angesagt: Max stellte mittels elektrischer Bedienung das Kopfteil des Bettes in schnellem Wechsel hoch und tief, bis der Alte ein wenig blinzelte. Sofort hielt er ihm ein Glas Wasser unter die Nase und befahl: »Trinken!«
Tatsächlich öffnete der Opa gehorsam den Mund und nahm einen kleinen Schluck zu sich, das Spiel begann von neuem, und nach vielen unverdrossenen Wiederholungen war das Glas leer. Max versuchte es auch gleich noch mit der lebensrettenden Puddingkur. Es klappte wie geschmiert. Nach zwei leeren Bechern waren Großvater und Enkel zwar leicht erschöpft, aber hochzufrieden. Der Alte setzte sogar zum Sprechen an: »Hab' wohl lange geschlafen?«
»Ja, Opa, wie fühlst du dich jetzt?«
»Ausgezeichnet, ganz famos. Was gibt es zum Mittagessen?«
Der Nachtisch war zwar jetzt zur Vorspeise geworden, aber das tat dem Appetit des Alten keinen Abbruch. Sie einigten sich auf zwei Spiegeleier mit Spinat und unterhielten sich eine ganze Weile völlig vernünftig. Das Abenteuer der Samstagnacht schien der Alte verdrängt oder vergessen zu haben. Max atmete auf, weil Jenny mit dem Sedativum recht behalten hatte, sein Opa schien nach sechzehnstündigem Tief schlaf wieder klar zu sein.
Seltsam, dachte Max, wie mir dieser alte Mann ans Herz gewachsen ist. Als der Großvater noch in Dossenheim gewohnt hatte, war Max vor allem wegen der großzügigen Entlohnung zu ihm gekommen.
Es heißt ja, dass die Pflege eines Kleinkindes etwas völlig anderes sei als die eines betagten Menschen. Abgesehen von der Größe der Pampers und dem Gewicht ihrer Inhaber, machen Babys ständig Fortschritte, bei den Alten ist das Gegenteil der Fall. Und doch gibt es eine Parallele bei der Pflege, nämlich die Entwicklung einer immer engeren Bindung. Andererseits las man zuweilen, dass alte Leute von überforderten, schlimmstenfalls sadistischen Angehörigen oder Heimpersonal gequält oder gar umgebracht wurden. Max konnte das überhaupt nicht verstehen. Sein Entschluss, eine Ausbildung als Altenpfleger zu beginnen, wurde immer konkreter.
Jenny hatte ihn allerdings mehr als einmal gewarnt: »Das ist kein Beruf, den du am Feierabend wie einen schmutzigen Overall in die Waschmaschine steckst. Man braucht nicht nur Muskeln, sondern auch charakterliche Stärke. Du erlebst Krankheit, Schmerzen und Tod deiner Alten.
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