Ehrenwort
Oberwelt und beim Einsteigen in seinen aufgeheizten Wagen. Die Begehung mit zwei Architekten und dem Bauunternehmer war anstrengend, aber effektiv gewesen, alle Termine konnten bis jetzt eingehalten werden. Harald legte seinen weißen Schutzhelm auf den Beifahrersitz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. In atemberaubendem Tempo fraßen sich Bohrer und Schaufeln durch die Bodenschichten. Dauerhaftigkeit und Gebrauchstauglichkeit eines solchen Großprojekts stellten hohe Anforderungen an Planung und Ausführung, aber das fertige Werk sollte die Krönung seiner Laufbahn werden. Die Kosten würden letzten Endes die errechneten Ausgaben übersteigen, doch das war heutzutage die Regel. Wenn nicht die Sorge um seinen Sohn gewesen wäre, hätte sich Harald in diesen Tagen als Erfolgsmensch gefühlt.
Gestern hatte er Max gefragt, ob er zufällig einen Horst Müller, auch Falko genannt, kenne. Der Junge hatte sich etwas unsicher verhalten, mit den Schultern gezuckt und gefragt, wie dieser Typ denn aussehe. Eine ausweichende Reaktion war zwar vorhersehbar, aber offenbar hatte Harald einen Nerv getroffen: Max wurde über und über rot.
»Von Ronald Melf habe ich erfahren, dass dieser Falko gar nicht stehlen, sondern dich besuchen wollte«, erklärte Harald. »Ich möchte wissen, ob da irgendetwas dran ist...«
»Eigentlich nicht«, sagte Max und machte sich schleunigst aus dem Staub. Eigentlich doch, dachte Harald und überlegte, ob und wie man den Urin seines Sohnes heimlich untersuchen lassen sollte. Doch lieber wollte er seinen Jungen ohne Umschweife fragen, ob er Drogen nehme und Falko sein Dealer sei.
Als Harald ins Büro trat, legte ihm seine Sekretärin ein Einschreiben auf den Tisch. Ein Bewohner der Hauptstraße meldete einen Spalt in der Hauswand, der auf die unterirdischen Baumaßnahmen zurückzuführen sei.
»Da sieh mal einer an! Die Nr. 74 ist ein verlottertes Anwesen, abbruchreif und völlig marode«, stellte Harald fest. »Ich bin fast hundertprozentig sicher, dass dieser Riss schon seit Jahren besteht. Also muss mal wieder ein Gutachter her, denn Vorher-Nachher-Fotos liegen wohl kaum vor. Wie lästig!«
Einen Moment lang dachte Harald, der Schreiber dieser Zeilen könnte gleichzeitig der Erpresser sein, aber er verwarf diesen Gedanken wieder. Hier wollte jemand nur Geld schinden.
Da kam ihm der letzte Drohbrief in den Sinn. Seltsam, dass sein Freund Jürgen, der schließlich Chef des Bauunternehmens war, bisher verschont worden war. Der Schreiber war bestimmt kein Profi. Vielleicht wollte er sich bloß wichtig machen? Schließlich hatte er kein Geld verlangt, sondern nur den sofortigen Stopp des Ausschachtens. Gefahr für Haralds Familie ging wohl kaum von diesem Windmacher aus.
Er seufzte tief auf, als es kurz an die Tür klopfte, seine Sekretärin »Mahlzeit« rief und entschwand. Harald schaute auf die Uhr, richtig - es war Mittag. Er war durstig und hatte wenig Lust auf den lauwarmen Kaffee aus dem Automaten oder gar abgestandenes Mineralwasser aus dem Vorratsschrank. Bei dem herrlichen Wetter musste ein kühles Bier her, und zwar an der frischen Luft! Schade, dass er sich nicht mit seinem Spezi verabredet hatte. Jürgen war leider nicht zu erreichen. Vielleicht war er noch unter der Erde und hatte keinen Mobilfunkempfang. Aber machte nicht um diese Zeit auch Petra ihre Mittagspause? Sie wollte die kurze Spanne meistens für ein Nickerchen nutzen und nicht gestört werden. Er versuchte es trotzdem. Petra war sofort am Handy, und er hörte ein müdes: »Ja, bitte?«
»Ich bin's, Harald. Hab' ich dich etwa geweckt?«
»Nein, ich mach' gerade Umsatzsteuer. Ist was passiert?«
»Die Sonne scheint!«
»Das sehe ich auch«, sagte Petra verdrossen, ließ sich aber von Harald dazu überreden, den Bürokram liegenzulassen und ihn in einem Bistro auf dem Lindenplatz zu treffen.
Harald bestellte ein großes Bier, Petra einen frischgepressten Orangensaft und einen Schwarzwaldbecher: Vanilleeis mit Kirschen und Schokoladensauce. Die Einladung ihres Mannes zu einem Rendezvous gefiel ihr, ihre gereizte Stimmung war verflogen. Eine Weile genossen beide das heitere Frühsommerwetter und plauderten unbeschwert miteinander.
Thema war der geplante Urlaub im September. Mit Schrecken erinnerten sie sich daran, wie sie zum ersten Mal ohne Kinder in die Toskana gefahren und unterdessen zu Hause wilde Partys gestiegen waren. Sämtliche Weingläser waren zu Bruch gegangen. Diese Zeiten waren zum Glück
Weitere Kostenlose Bücher